Leseprobe zu "Wer zum Teufel ist Butterblume"

Magisches Geflüster

Wer zum Teufel ist Butterblume?

Roman


Kapitel 1

 

Tom ließ sich in den Sitz fallen und atmete erleichtert aus. Er war fast am Ziel, in wenigen Stunden würde sein neues ruhiges Leben beginnen. Es konnte nur besser werden, in jeder Hinsicht. Seine Arbeit an der Börse war jetzt schon nur noch eine unwillkommene Erinnerung – Stress pur. Aber gutes Geld, da ging kein Weg dran vorbei. Tom hatte sich in den letzten Jahren ein Vermögen zusammengeackert. Doch zu welchem Preis?

Der Zusammenbruch kam, als die Kopfschmerzen unerträglich wurden. Und dann die niederschmetternde Diagnose: Hirntumor. Arbeitsausfall, Krankenhaus, OP, Bestrahlung – mit seinen knapp vierzig Jahren war er nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Er hatte nach der Entfernung des Tumors neu sprechen lernen müssen, war heute nur noch bedingt belastbar und seine Konzentrationsspanne glich der einer Amöbe. Jeglicher Stress war seitdem Gift für Tom. Es wurde ihm unmissverständlich nahe gelegt, dass er nicht nur kürzertreten, sondern sein Leben radikal umstellen müsse. Nichts würde mehr sein, wie es einmal war.

Da zeigte Gary ihm eine Finca, die zum Verkauf stand. Direkt am Meer, mit einem kleinen Weinberg und ein wenig Land. Ein Traum, weit ab von der Welt, die ihm bekannt war.

»Hier kannst du zur Ruhe kommen«, hatte Gary voller Enthusiasmus gesagt. »Wir keltern unseren eigenen Wein, halten uns ein paar Ziegen für hauseigenen Käse und bieten Urlaub für Touristen an, Whalewatching inklusive!«

»Whalewatching?«, Tom erinnerte sich gut, wie verwirrt er gewesen war. Was war ihm entgangen? »Spanien?«, hatte er vorsichtig gefragt und dabei gehofft, dass sein Unverständnis nicht wieder auf einer Gedächtnislücke aufgrund seiner Operation beruhte.

»Nicht Spanien, Tom, Portugal! Die Azoren gehören zu Portugal.«

Azoren? Moment mal, davon hatte Gary aber noch nichts gesagt, oder?

»Wann wolltest du mir sagen, dass dieser Traum auf den Azoren liegt?«, pokerte er und hoffte, dass sein Gedächtnis ihn nicht belog.

Gary grinste breit. »Wenn du dafür bereit wärst!«

»Ach, und jetzt bin ich das?«, Tom sah Gary vorwurfsvoll an. Gary ignorierte das und strahlte.« Wale und Delphine! Die Finca hat zwei extra Apartments, das ist perfekt! Wir kaufen uns ein Boot und fahren Touristen hinaus aufs Meer. Eine Arbeit wie täglich Urlaub, und uns kommt unsere Vergangenheit als Rettungsschwimmer zugute. Wir haben sogar schon beide den Bootsführerschein. Na, was sagst du?« Gary lehnte sich sichtlich begeistert im Stuhl zurück und nahm einen ordentlichen Schluck Bier. »Nur du und ich. Du müsstest dann allerdings ohne dein kleines Betthäschen auskommen«, fügte er mit einem breiten Grinsen hinzu.

Tom verdrehte die Augen. Melissa war nun wirklich nicht das Problem. Er wusste ganz genau, dass sie nichts für die Zukunft war. Die Kleine war scharf, aber genauso scharf war sie auch auf sein Geld, da machte sich Tom nichts vor, egal, wie üppig ihre Oberweite und wie schmollend ihr Mund auch waren.

Gary sah Tom hoffnungsvoll und voller Tatendrang an. Tom schüttelte ergeben den Kopf. Wer konnte bei so viel Lebensfreude schon widerstehen? Gary hatte recht, es war perfekt. Und es kam ihrem Jugendtraum von einem vollendeten Leben näher, als er es je für möglich gehalten hätte. Aber die Azoren? Das war weit weg, mitten im Atlantik auf halbem Wege nach Amerika. Gut, die Inselgruppe zählte zu Portugal. Und wenn man die Geographie sehr weit fasste, könnte man behaupten, der Archipel läge vor Portugals Küste.

»Seit wann kannst du portugiesisch?«, fragte Tom, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Die wirklich extrem abgelegene Lage der Traumfinca musste er erst einmal verdauen.

Gary schnaubte. »Das kann man lernen. Mit englisch kommt man überall durch, und die Touristen werden wohl hauptsächlich deutsch- oder englischsprachich sein, da genau sie unsere Zielgruppe sein werden.«

Tom nickte nachdenklich. Man würde Werbung schalten müssen. Gary hatte die Zielgruppe instinktiv erfasst. Menschen machten gern dort Urlaub, wo sie auf Bekanntes stießen, und wo die Gastgeber ihre Sprache und Sitten teilten. Etwas Vertrautes in einem fremden Land. Und sowohl Tom als auch Gary boten als Deutsche mit englischsprachigem Elternhaus die perfekte Kombination.

»Wein keltern? Käse selbst machen?« Tom war noch nicht fertig, Gary auf die Probe zu stellen. Immerhin ging es hier um ihre Zukunft.

Gary zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Man ist nie zu alt, um etwas gänzlich Neues anzufangen. Und schmecken tun uns Wein und Käse ja wohl beiden.« Er grinste spitzbübisch.

Tom verdrehte die Augen. »Du verklärst die Lage zu einem Kinderspiel. Sowas ist ein Haufen Arbeit und ich …« Er stockte. Tom wurde sich wieder einmal seiner Lage bewusst. Er war nur noch ein halber Mann, zumindest fühlte er sich so, seitdem er schwach wie ein Kind war und bei jeder Kleinigkeit die Nerven verlor. Würde er jemals wieder belastbar und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein?

Gary wurde ernst. »Ich kann für zwei anpacken, das weißt du. Und es geht nicht um große Mengen, sondern nur um Wein und Käse für uns und unsere Gäste. Eine Spezialität des Hauses, mehr nicht. Etwas, das extra Touristen zieht, als Lockmittel, wenn du so willst. Wer eine Tour hinaus aufs Meer bucht – egal ob Feriengäste bei uns oder andere Touristen –, der bekommt im Angebot inbegriffen ein nettes Beisammensein hinterher dazu. Unser Hauptaugenmerk liegt allerdings auf zahlenden Urlaubsgästen und Whalewatchingtouren.«

Tom gefiel die Idee, er wollte nur nicht zu enthusiastisch sein. Ein Traum konnte so schnell zerplatzen. Doch Gary schien sich tatsächlich ernsthaft mit dieser Idee auseinandergesetzt zu haben. Ein völlig neues Leben, fernab jeglichen Stresses.

»Die Azoren, hm?« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Warum eigentlich nicht? Dann zeig mir mal alles noch einmal ganz genau!«

Es war eine lange, pläneschmiedende Nacht geworden. Und es folgten noch viele weitere Tage und Nächte.

Dann war Gary alleine nach Pico des Açores geflogen, die Azoreninsel, auf der die Finca zum Verkauf angeboten wurde, um alles zu filmen und vor Ort zu begutachten. Sie waren sich einig, dass Tom sich schonen müsste und nicht unnötig um die Welt reisen sollte, falls sich die Finca in natura als abrissreife Baracke erwies.

Doch Haus und Grundstück stellten sich als kleines Paradies heraus. Tom hatte das Geld geschickt, Gary sorgte vor Ort dafür, dass alles nach Plan verlief. Und nun war Tom auf direktem Weg in sein neues Leben.

 

Er warf einen Blick aus dem kleinen Flugzeugfenster und zückte sein Handy.

»Hi, ich bin`s. Sitze im Flugzeug in Lissabon. Wir starten gleich. Ich bin um zehn vor elf in Horta.«

Ein ausgedehntes Gähnen am anderen Ende. »Du hast mich geweckt! Rufst du mich an, um mir zu sagen, was ich schon weiß?«

Tom grinste in sich hinein. »Das war Sinn der Sache. Weshalb solltest du schlafen, wenn ich in aller Herrgottsfrühe durch die Luft fliegen muss?«

Eine Salve von Flüchen zischte durch das Telefon. Tom grinste noch breiter. Gary war morgens mit Vorsicht zu genießen.

»Und? Holst du mich ab?«

Noch mehr Flüche. »Natürlich hole ich dich ab! Genau wie abgemacht!«

»Na, dann ist ja gut. Leg dich wieder hin.« Gary stöhnte ins Telefon. Und er knurrte etwas von Kaffee und jetzt bin ich wach.

Als Tom auflegte, feixte er in sich hinein. Er liebte es, Gary zu foppen. Das war wie in alten Tagen. Er freute sich wie ein Kind auf sein neues Leben auf der Insel Pico auf den Azoren. Gary und er waren ein gutes Team.

Tom lehnte sich zurück und genoss das prickelnde Gefühl, durch die Beschleunigung des Flugzeuges in den Sitz gedrückt zu werden. Sein Magen schien sich kurz außerhalb seines Rückgrades zu befinden, seine Ohren knackten durch den Unterdruck und schon flogen sie hoch hinaus über die Wolkengrenze.

Wunderschön, dachte Tom, als er über die sonnengefluteten Wattewolken blickte, die schneeweiß unter ihm erstrahlten. Es war, als würde er sich im Himmel befinden – wie in einer anderen Welt.

Plötzlich durchbohrte ein stechender Schmerz seinen Kopf.

Was zum Teufel …?, dachte er noch, dann überrollte ihn heftige Übelkeit, sein Nacken versteifte sich und es wurde schwarz um ihn herum …


 

Kapitel 2

 

Zwei Jahre später.

 

Ich war spät dran und es regnete in Strömen. Ich war pitschnass, meine hüftlangen, schwarzen Haare klebten mir unschön überall dort, wo es störte, und meine Bluse zeigte mehr, als mir lieb war.

Das Meeting hatte schon begonnen, und mein Chef warf mir einen tadelnden Blick zu. Der Rest der Truppe verkniff sich ein Grinsen. Hastig setzte ich mich, zog den Notizblock hervor und begann, das Personalmeeting Punkt für Punkt mitzuschreiben. Ich war Chefsekretärin eines renommierten Hamburger Unternehmens und normalerweise professionell bei der Sache. Heute fiel es mir allerdings schwer, mich zu konzentrieren. In Gedanken war ich schon im Urlaub. Das war auch der Grund für meine Verspätung gewesen. Ich musste packen! Meine sorgfältig zusammengetragene Liste über alles, was ich mitnehmen wollte, war wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Voller Panik, die Hälfte zu vergessen, lief ich in meiner kleinen Poppenbüttler Wohnung herum und warf wahllos alles in den Koffer, das irgendwie von Nutzen sein könnte.

Als ich mit sämtlichem Gepäck bereits im Auto saß, fiel mir siedendheiß ein, dass ich die Tickets noch nicht ausgedruckt hatte. Verflixt! Hektisch – was normalerweise nicht meine Art war – stürzte ich durch den strömenden Regen zurück in den zweiten Stock, stolperte über die Treppenstufen, ignorierte mein Schnaufen und die plötzlichen Hitzewallungen, und hechtete an den Computer. Ich trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte und fragte mich, ob das Ding schon immer so langsam gewesen war. Mein fünfzehnter Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich das erste Mal zu spät kommen würde. Ich ärgerte mich. Hätte der Chef mir nicht freigeben können? Er wusste ganz genau, dass ich direkt nach dem Meeting zum Flughafen musste. Und zwar ohne Verzögerung, sonst verpasste ich noch den Flug. Mein Zeitplan war extrem knapp bemessen. Und alles nur, weil mein herrschsüchtiger Chef mich keine paar Stunden früher gehen lassen wollte.

»Ich brauche Sie bei dem Meeting, Frau Berger.« Ja klar. Als ob es niemand anderes gab, der seine wichtigen Ergüsse auf Papier festhalten konnte!

Eigentlich mochte ich meine Arbeit. Auch mit meinen Kollegen kam ich mehr als gut aus. Doch ich spürte immer wieder eine unterschwellige Unzufriedenheit. So als würde etwas fehlen, so als wäre ich hier nicht wirklich zu Hause – weder im Job noch in Hamburg.

Ich war zusammen mit meiner Mutter in der Nähe von Bergedorf aufgewachsen, fast auf dem Land. Ich hatte mich dort nie heimisch gefühlt, nie ganz dazugehört. Nicht, dass man es mir angemerkt hätte – ich war offen, sozial, hatte Freunde, alberte mit ihnen herum und ging meinen Weg. Es war eher ein Gefühl tief in mir drinnen. In meinem Innersten. Ein Gefühl der Leere, als ob mir etwas fehlte oder genommen worden war. Ich erklärte mir diese Gefühle damit, dass ich ohne Vater aufwuchs. Ich weiß nicht einmal, wer er war. Meine Mutter weigerte sich bis zu ihrem Tod, über ihn zu reden oder mir auch nur ein Foto von ihm zu zeigen. Ich wusste nur eines ganz genau – meine schwarzen Haare und dunkelbraunen Augen hatte ich nicht von meiner Mutter geerbt. Sie war blond und blauäugig.

Nach der Schule zog ich in die Stadt. Ich hoffte, dort zu finden, was ich auf dem Land vermisste. Meine Ausbildung zur Anwalts- und Notargehilfin durchlief ich mit Bravour und schloss als Jahrgangsbeste ab. Ich wurde sofort übernommen, doch als das Unternehmen pleite ging, war ich gezwungen, mir etwas Neues zu suchen.

Seit fast zwei Jahren arbeitete ich nun für Schulze, Liebknecht und Harms. Das Geld stimmte, ich war seit kurzem sogar zur Chefsekretärin befördert worden, doch die innere Leere war geblieben. Sobald ich genügend gespart hatte, flog ich in den Urlaub. Immer wieder, immer aufs Neue. Andere Länder, neue Bräuche, fremde Kulturen – als wäre meine rastlose Seele auf der Suche. Solch seltsame Gedanken kamen mir allerdings nur nachts. Und auch nur dann, wenn ich gerade einmal nichts um die Ohren hatte. Was äußerst selten geschah, denn ich füllte mein Dasein mit Arbeit, Ereignissen und Erlebnissen.

Und auch nun war ich wieder mittendrin im Rad meines Lebens, denn dort saß ich nun – in diesem äußerst wichtigen Meeting und kritzelte geistesabwesend das Wesentliche in den Notizblock, statt richtig zuzuhören. Ich überlegte fieberhaft, was ich wohl Wichtiges für den Urlaub vergessen haben könnte: Handy, Ladegerät, ebook-Reader, Ladyshaver (ja, so hieß mein knallpinker Rasierapparat), Kamera … Oh! Ich hatte den Spritzschutz der Kamera vergessen. Und die Regensachen … Ich würde neue kaufen müssen, da führte kein Weg dran vorbei.

»… das ist äußerst wichtig, das dürfen wir nicht vernachlässigen«, sagte mein Chef gerade.

Ich zuckte entsetzt zusammen. Was durften wir nicht vernachlässigen? Schuldbewusst sah ich mich um. Manfred zwinkerte mir wissend zu. Ein netter Kerl aus der Rechtsabteilung. Er war scharf auf mich. Leider aber ganz und gar nicht mein Typ. Jetzt gerade liebte ich ihn allerdings.

»Ich sag‘s dir nachher«, mimte er tonlos. Erleichtert widmete ich mich wieder den Notizen. Das Meeting schien kein Ende nehmen zu wollen. Immer öfter schielte ich auf die Uhr. Langsam wurde es knapp. Manfred verstand mein Dilemma und eilte mir nochmals zu Hilfe.

Er räusperte sich. »Ich unterbreche Sie ungern, Herr Schulze. Aber dürfte ich Sie daran erinnern, dass ich in zehn Minuten einen Termin habe und auch Herr Walter dringend noch etwas vor Mittag zu erledigen hat?«

»Oh, ja natürlich«, lenkte der Chef ein.

Für mich hätte er das nicht getan, das wusste Manfred genauso gut wie ich. Doch für seine beiden besten Männer fasste er sich kurz. Nur drei Minuten später hatte er den Raum verlassen und ich atmete erleichtert aus.

»Danke, Manny. Ich schulde dir was.«

Er grinste anzüglich und blickte auf meine nasse Bluse. »Ich wüsste auch schon …«

»Wollen wir es mal nicht gleich übertreiben«, unterbrach ich ihn und gab ihm einen freundschaftlichen Knuff.

»Na, geht‘s endlich in den Urlaub, Meli?«, fragte Robert und stellte seinen Aktenkoffer mit einem Rums auf den Tisch.

»Nur, wenn ich es hier in den nächsten zehn Minuten rausschaffe«, entgegnete ich.

»Na dann, guten Flug und erhol dich. Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.« Er hob vielsagend die Augenbrauen und musterte meine wirren Haare.

Ich verdrehte als Antwort die Augen. Offenbar sah ich genauso gestresst aus, wie ich mich fühlte.

»Ich werde dann mal meine Topfpflanze ins Trockene bringen«, grinste Robert und tippte sich zum Abschied an die Stirn.

Verwirrt sah ich zu Manfred auf. Er überragte mich um zwei Köpfe, was nicht weiter schwer war. Ich maß nur kleine einsvierundfünfzig.

»Topfpflanze ins Trockene bringen? Ist das ein neuer Ausdruck? Sowas wie in die Fliesenabteilung gehen

Manfred starrte mich an und brach dann in schallendes Gelächter aus. Nachdem meine unfreiwillige Komik im Raum die Runde gemacht hatte, amüsierten sich sämtliche Kollegen auf meine Kosten. Nur ich verstand gar nichts. Als Erklärung für all diejenigen, die mit der Fliesenabteilung nichts anfangen können: Das ist so ein Ausdruck von Manfred, eine Umschreibung fürs aufs Klo gehen – der gekachelte Toilettenraum … Wen es tröstet: Ich hatte das beim ersten Mal auch nicht verstanden.

»Hach, Meli, was täten wir nur ohne dich«, gluckste Manfred und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

Ja, ja. Schon klar. Meli das Maskottchen. Und wann kam die Erklärung mit der Topfpflanze? Sollte ich etwa unwissend in den Urlaub fliegen?

»Die Neugierde bringt mich fast um«, knurrte ich. »Los, klär mich auf!«

Vor Freude schnaufend erinnerte er mich daran, dass Robert doch Geburtstag hatte und ich ebenfalls an der Topfpflanze als Geschenk beteiligt gewesen war. Nun ja, und da es draußen regnete … Uff, wie peinlich und das gleich doppelt! Ich hatte Roberts Geburtstag vergessen und mich auch noch voll blamiert. Nur so als Vermerk: Ab jetzt hasste ich Sprichwörter und seltsame Vergleiche. Ich gehe jedenfalls aufs Klo und nicht in die Fliesenabteilung!

Ich erwischte Robert noch an seinem Auto und konnte ihm also meine herzlichen Glückwünsche überbringen. Ich war froh, dass er erst am nächsten Tag von meiner Blamage erfahren würde. Dann hechtete ich in meinen eigenen Wagen und düste – so gut es durch Hamburg eben ging – zum Flughafen Fuhlsbüttel. Mein Auto bekam einen Platz auf dem Langzeitparkplatz, dann checkte ich sozusagen in letzter Minute ein – Hamburg - Lissabon. Nach mir schloss die Dame tatsächlich den Schalter.

An der Sicherheitskontrolle musste ich meine Wasserflasche abgeben, da ich vor lauter Stress vergessen hatte, sie vorher auszuleeren. Seufzend ergriff ich meine Tasche, die ohne Flasche anstandslos durch die Kontrolle ging, und wandte mich zum Gehen. Automatisch suchte mein Blick die Schilder nach meinem Gate ab, da klingelte mein Handy. Das war garantiert Wenke, die schon ganz hibbelig wartete, weil ich immer noch mit Abwesenheit glänzte. Ich wühlte mein Handy aus der Tasche, ließ diese vor lauter Hektik fallen und stolperte über meine eigenen Füße. Leise fluchend sammelte ich alles wieder auf, hielt inne und holte tief Luft. Diese Hektik machte mich im Endeffekt nur langsamer.

»Ja, ich bin fast bei dir«, antwortete ich ins Telefon, ohne abzuwarten, was Wenke mir so entgegenrufen könnte. Leider half mein Versuch, sie zu beruhigen, nicht.

»Wo bleibst du!«, zischte sie, als ob ich gar nichts gesagt hätte. Oh Mann, kein Rufen, sie war bereits im Zischstadium. Wenke war meine beste Freundin, wir kannten uns schon seit der Grundschule, und ich wusste ganz genau, welche Panik sie gerade schob. Wenke war ein Schatz, eine richtige Macherin: kreativ, einfallsreich, konnte ohne Umschweife einen Reifen wechseln und einen ganzen Acker umgraben, nur wenn es darum ging, allein in Zug, Bahn, Flieger oder Boot zu steigen, wurde sie plötzlich nervös wie eine Erstklässlerin. Ihre größte Angst bestand darin, die jeweiligen Fortbewegungsmittel zu verpassen oder sich im falschen Zug, Bahn Flieger usw. wiederzufinden. Doppelt Panik war angesagt, wenn sie sich eigentlich in Sicherheit wähnte – also eine Reisebegleitung hatte –, doch diese plötzlich absagte, oder wie ich gerade einfach nicht auftauchte.

Da ich Wenkes Angst also verstand, unterbrach ich sie mit leicht erhobener Stimme, die hoffentlich eine Ruhe ausstrahlte, die ich gerade nicht verspürte. Wo war nur das verflixte Gate?

»Beruhige dich, ich bin schon im Flughafen. Ich habe eingecheckt und suche das Gate.« Oh, falscher Ausdruck …

»Suchen? Hast du dich etwa verlaufen?«, rief Wenke aufgeregt.

»Nein, nein«, wiegelte ich ab und schaute mich gründlich um. Ich eilte auf die nächste Ecke zu. »Ah, hier sind wieder Schilder. Okay, ich bin gleich bei dir … Bin fast da … Du müsstest mich gleich sehen …« Ich schritt zügig voran und da kam Wenke auch schon auf mich zugeflitzt. Ihre Panik war verflogen, als wäre nie etwas gewesen. Sie strahlte, warf ihre schulterlange, hellblonde Wuschelmähne zurück und drückte mich fest. Ich drückte zurück, obwohl ich mit meinen einsvierundfünfzig von ihren einseinundsiebzig fast begraben wurde.

»Hach, ist das schön, dich wieder zu sehen!«, rief sie überschwänglich.

»Das finde ich auch!«, erwiderte ich glücklich.

Wenke lebte in Nürnberg und war extra nach Hamburg geflogen, damit wir unsere Reise gemeinsam antreten konnten. Obwohl wir in den letzten Wochen fast jeden zweiten Tag telefoniert hatten – so eine Reise musste ausgiebig geplant und bekakelt werden –, war es über ein halbes Jahr her, dass wir uns zuletzt in die Arme genommen hatten. Und nun lagen drei Wochen gemeinsamer Urlaub auf den Azoren vor uns – Whalewatching inklusive. Ich liebte Wale und Delphine und freute mich schon riesig auf die kommenden Wochen auf der Insel Pico. Noch nie hatte ich diese wunderbaren Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten dürfen, das sollte sich nun also bald ändern.

 

Der Flug nach Lissabon dauerte dreieinhalb Stunden. Bei der Ankunft war es sehr warm und es goss in Strömen, als würde jemand kübelweise Wasser auf uns ausschütten. Hatten wir Hamburg überhaupt verlassen? Und dann die Erkenntnis: Unser Gepäck war verschollen!

»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, stöhnte ich. Hatte sich denn heute alles gegen mich verschworen?

»Kein Problem, Senhorita, wir kümmern uns darum«, sagte der dürre Portugiese, den wir um Hilfe gebeten hatten. »Ihr Gepäck ist sicher unterwegs und wird morgen direkt in ihren Flieger nach Faial geladen werden. Das geschieht öfter, wenn ein Anschlussflug gebucht ist!« Er grinste und nickte ausdrücklich.

»Anschlussflug?«, fragte ich ungehalten. »Wir fliegen erst morgen weiter. Wir haben weder Kleidung zum Wechseln noch eine Zahnbürste dabei. Wie stellen Sie sich das vor? Das hätte einem doch vorher mitgeteilt werden müssen!«

Er grinste und lächelte freundlich. »Zahnbürsten gibt es im Hotel. Kein Problem, Senhora.«

Aha. Jetzt war ich plötzlich von der Senhorita zur Senhora gealtert. Offenbar zählte mangelnde Flexibilität zum älteren Semester.

Der junge Mann lächelte immer noch. Ich gab auf, seufzte und beschloss, wir waren Senhoritas. Eine Nacht ohne Schlafshirt, Shampoo, Bürste, Hautcreme, Zahnbürste und Lieblingszahnpasta, frischen Unterhosen und und und würde uns schon nicht umbringen, oder?

 

Nach einer Nacht mit wenig Schlaf – es war erstickend heiß gewesen und die keine Klimaanlage hatte nicht funktioniert – saßen wir um Punkt sieben Uhr fünfzehn im Taxi zum Flughafen. Wir hatten gerade noch Zeit für einen Kaffee, dann ging es auch schon an Bord. Flugzeit zwei Stunden vierzig Minuten, guter Flug, Sonne, Essen schlecht – das war wohl immer so auf Flugreisen. Nach dem pappigen Frühstück lehnte ich mich zurück und döste weg. Die schwüle Nacht ohne Ohrenstöpsel – die waren im Koffer – forderte ihren Tribut.

 

Ich fühlte, dass ich beobachtet wurde, spürte durchdringende Blicke auf mir …

Ich schlug die Augen auf und blickte direkt in das Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes, der mich von oben bis unten musterte. Er hatte freche, intensiv grüne Augen und einen verschmitzten Ausdruck auf seinem wirklich gut aussehenden Gesicht.

Ich setzte mich mit einem Ruck auf. »Was tun Sie hier? Wo ist Wenke? Das ist ihr Platz!«

Er grinste mich frech an. »Oh ja, du bist die Richtige«, sagte er mit einer tiefen, leicht rauen Stimme.

Was zum Henker bildete der sich ein! Ich blinzelte, setzte zu einer bissigen Antwort an, doch seine Gestalt verschwamm, wie von Geisterhand verwischt. An seiner Stelle saß dort auf einmal eine umwerfend gut aussehende junge Frau. Meine geplante Attacke blieb mir im Hals stecken. Eine Gänsehaut überlief mich und das beklemmende Gefühl von Unwirklichkeit hüllte mich ein. Ich versuchte, der Lage Herr zu werden, während die gut aussehende Blondine drauflos zwitscherte.

»Wenke ist nur mal für kleine Mädchen.«

Noch so eine nervige Umschreibung fürs Klo!, fuhr es mir durch den Kopf.

»Wir haben uns den ganzen Flug unterhalten. Du hast so fest geschlafen, da wollten wir dich nicht wecken. Wir sind übrigens fast da«, fuhr die Modellschönheit fort. »Ich bin Alexa!« Sie strahlte und reichte mir die Hand. Ihre blauen Augen blitzten, als wäre meine Bekanntschaft zu machen, das aufregendste von der Welt.

»Meli«, antwortete ich automatisch und ergriff ihre Hand.

»Schön, dich kennenzulernen, Meli!«

»Ähm, … wo ist der Mann, der eben noch hier saß?«, fragte ich. Ein Schauer überlief mich. War er überhaupt da gewesen?

»Was für ein Mann?«, bestätigte Alexa meine Befürchtungen. »Hier war niemand, außer mir natürlich.« Ihre strahlende Miene wich Besorgnis. »Geht es dir nicht gut? Du bist etwas blass. Reiseübelkeit?«

»Ich … ähm …« In meinem Kopf rotierte es. Hatte ich nur geträumt? Aber ich hatte den Mann wirklich gesehen. Er war so echt gewesen und doch … Ein weiterer Schauer überlief mich. Das Gefühl von Unwirklichkeit erfasste mich erneut. Ich schluckte. Übelkeit? Das war eine gute Ausrede, um nicht gleich als komplett verrückt dazustehen. Diese Alexa musterte mich viel zu eindringlich für meinen Geschmack.

»Mir ist tatsächlich nicht richtig gut«, murmelte ich. Wo blieb Wenke bloß?

Alexa nickte, strich sich ihre langen, glatten Haare zurück und erhob sich. »Ich hab da was für dich, das hilft«, sagte sie und bewegte sich dann mit einer Grazie durch den engen Flugzeuggang, als wäre es ein Laufsteg. Sämtliche Männer blickten ihr teils schmachtend teils anerkennend hinterher, während die Frauen ein paar zusätzliche Falten durch gerunzelte Stirne und verengte Augen dazu bekamen. Wie surreal. Wo war ich nur hineingeraten? Irgendwie erwartete ich fast, dass Alexa genauso verschwimmen und sich in Luft auflösen würde, wie der Mann zuvor. Ich blinzelte hoffnungsvoll. Nichts. Alexa war noch da. Sie wühlte vornübergebeugt in ihrem Handgepäck herum, sodass einige Herren beim Anblick ihres wohlgeformten Hinterteils Stielaugen bekamen, und tauchte dann mit einem Beutel bewaffnet wieder auf. Sie traf zeitgleich mit Wenke bei mir ein.

»Hier, Ingwerbonbons, die helfen Wunder bei Reiseübelkeit«, sagte Alexa überzeugt und drückte sie mir ohne Umschweife in die Hand.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Wenke und musterte mich nun ihrerseits.

»Weiß nicht«, murmelte ich ausweichend.

»Hoffentlich war da nicht etwas am Frühstück faul«, meinte Wenke in ihrer üblich direkten Art. »Das hat grauenvoll geschmeckt.«

Bekam man von Lebensmittelvergiftungen Halluzinationen? Hatte ich tatsächlich etwas Schlechtes gegessen? Fast hoffte ich es schon, doch dann erinnerte ich mich daran, dass mir gar nicht übel war. Ich hatte nur von meiner Verwirrung ablenken wollen.

»Ach was«, sagte ich daher energisch. »Ich bin nur müde. Ich glaube, ich hatte einfach zu viel Stress in letzter Zeit.«

Ich wollte Alexa die Ingwerbonbons zurückgeben, doch sie winkte ab.

»Behalt sie. Ich hab noch mehr davon. Ingwer ist voll das Wunderzeugs, das ist irre gesund. Nimm ruhig, schaden tut es dir jedenfalls nicht.«

»Okay, danke«, sagte ich. »Ich probier das nachher mal.«

Alexa nickte zufrieden. »Ich mach auch Urlaub auf den Azoren.«

Ach nee, dachte ich. Immerhin war das hier ein Direktflug nach Faial, eine der Azoreninseln, von der aus wir nach Pico weiterreisen wollten.

»Ich bin zum dritten Mal hier. Ich liebe die Inseln!«

»Alexa fliegt immer ganz allein in den Urlaub«, sagte Wenke mit einer Portion Bewunderung in der Stimme.

»Mein Mann setzt sich aus Prinzip nicht in ein Flugzeug.« Alexa zuckte mit den Schultern. »Und ich sehe nicht ein, nur deswegen auf weiter entfernte Urlaubsziele verzichten zu müssen. Oh, wir sind da!« Sie strahlte und eilte zu ihrem Platz, denn die Borddurchsage kündigte unsere Landung an und forderte alle auf, ihre Sicherheitsgurte anzulegen.

Wenke ließ sich neben mir in den Sitz plumpsen.

»Die ist nett. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden.« Wenke schnallte sich an, während ich noch etwas ungeschickt herumfummelte.

Sie beugte sich zu mir hin und raunte: »Ich glaub, ihr Typ ist steinreich. Wenn ich sie richtig verstanden habe, dann fliegt sie mindestens zweimal im Jahr allein weg und macht noch ein paar Mal mit ihrem Mann Urlaub.«

»Vielleicht ist das so ein neunzigjähriger Daddy, der sich eine junge Hübsche geschnappt hat«, grinste ich.

Wenke kicherte. »Das war auch mein erster Gedanke. Oh, schau mal!« Entzückt zeigte sie über mich hinweg zum Fenster. Strahlender Sonnenschein mit Blick auf die Insel.

Langsam entspannte ich mich wieder. Wenkes muntere Art tat mir gut und verscheuchte die Geister des Fluges.


 

Kapitel 3

 

Unser Gepäck war da! Was für ein Glück. Ich dachte schon, der ganze Urlaub stünde unter einem dunklen Stern.

Während wir – zu dritt, denn Alexa wollte auch nach Pico – mit dem Taxi zum Hafen hinunterfuhren, bewölkte es sich wieder und ein Wind zog auf.

»Das ist hier normal«, zwitscherte Alexa fröhlich. »In der Wetterküche Europas kann man vier Jahreszeiten an einem Tag erleben, sagen die Einheimischen!«

Ich hatte davon gelesen. Obwohl man meiner Meinung nach nur von drei Jahreszeiten sprechen konnte, denn die Temperaturen auf den Azoren fielen nur selten unter zehn Grad. Bei Winter hatte ich dann doch Frost und Schnee im Kopf.

Das Taxi lieferte uns bei einsetzendem Nieselregen und weiter zunehmendem Wind am Hafen ab. Zu meinem Erstaunen machte mir das Wetter gar nichts aus. Offenbar war ich von der Tatsache, nicht drei Wochen ohne Gepäck auskommen zu müssen, noch so erfreut, dass mir so ein bisschen Regen nicht die Stimmung verhageln konnte.

»Das Boot geht erst in zwei Stunden«, verkündete Wenke, die den Fahrplan in der überdachten Wartezone als erstes erreichte. »Und jetzt?«

»Weiter oben ist ein Pub«, sagte Alexa. »Gemütlich und gutes Essen.«

»Gut, ich bin am Verhungern.« Mein Magen knurrte zur Bestätigung.

»Du hast immer Hunger«, schnaubte Wenke. »Aber es ist eh gleich Mittag und das Frühstück an Bord war wirklich unterirdisch.«

Also kämpften wir uns durch Wind und Regen das Kopfsteinpflaster hinauf zum Pub – das Gepäck im Schlepptau. Als wir ankamen, waren mir die Arme lahm und ich aus der Puste. Wir retteten uns gerade noch ins Innere des Pubs, bevor draußen regnerisch gesehen die Hölle losbrach. Doch der Pub hielt, was Alexa versprochen hatte. Es war urgemütlich, und offenbar hatten bereits einige Berühmtheiten hier verweilt – Fotos an den Wänden zeugten davon –, und das Essen war die Wucht.

Alexa war wirklich sympathisch. Wenn man es schaffte, über ihre zwitschernde Stimme und typische Modellschönheit hinwegzusehen, kam da eine einfache Frau zum Vorschein, die das Herz am rechten Fleck hatte. Gut, sie hatte die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen, doch für mich zählte der EQ sowieso mehr als der IQ, zumindest solange noch in verständlichen Sätzen gesprochen wurde.

 

Als wir endlich an Bord des Bootes stiegen, das uns von der Insel Faial nach Pico bringen sollte, hatte sich der Regen zwar gelegt, dafür stürmte es jetzt, dass sich die Bäume bogen und die See gepeitscht wurde. Die kleine Brücke zum Boot wankte bedenklich, und ich sah mich schon in den Fluten liegen. Doch wir und noch gefühlte tausend andere schafften es durch eine helfende Hand des Bordpersonals unbeschadet an Bord. Alexa wurde gleich von zwei der Jungs der Fähre sicher über die Brücke geleitet. Dass die keine Sabberspur hinterließen, grenzte schon an ein Wunder.

Unser Gepäck landete unsanft mit unzähligen anderen Reisetaschen im Boot und bildete bald einen ansehnlichen Haufen. Wer hier zuerst an Bord gelangte, ging offenbar als letztes.

»Hierher!«, rief Wenke mir zu. »Hier sind noch Plätze frei!« Ich wollte mich gerade zu ihr und Alexa durch die Menschenmassen kämpfen, da sah ich ihn.

Er stand an der obersten Stufe zum Deck und blickte mich an. Dunkelhaarig, ein freches Lächeln auf den Lippen und merkwürdig unscharf in den Konturen, so als ob er im Nebel stehen würde. Ein Schauer überlief mich. Mein Magen fühlte sich auf einmal ganz flau an.

Ich handelte, ohne nachzudenken. Automatisch bewegte ich mich auf ihn zu, benutzte die Ellenbogen, um durch die Menschenmassen zu gelangen. Und dann war er fort. Einfach so, in Luft aufgelöst …

Adrenalin flutete mich, mein Herz raste, mein Atem ging schneller.

Wer war das? Was ging hier vor sich?

Genau wie im Flugzeug erfasste mich das Gefühl von Unwirklichkeit und mir wurde auf einmal schwindlig, so als würde der Boden unter mir wegsacken.

Moment mal! Genau das tat der Boden! Ich hatte gerade noch Zeit zu erfassen, dass wir abgelegt hatten und das Boot ganz eindeutig ein Spielball der aufgewühlten See geworden war, da wurde ich auch schon von der Menschenmenge gegen einen Pfeiler gedrückt. Als das Boot sich kurz darauf in die entgegengesetzte Richtung neigte, krallte ich mich verzweifelt am Pfosten fest, während die Menge an mir vorbeigeschwemmt wurde.

»Hierher! Meli, hierher!«, zwitscherte Alexas Stimme. Ich horchte auf, lokalisierte die Quelle und bahnte mir bei der nächsten Welle in die richtige Richtung einen Weg zu den maßlos überfüllten Sitzplätzen. Hatten die hier keine Sicherheitsvorschriften?

Als ich endlich kopfüber in den Sitz neben Alexa stolperte, erfasste ich Wenkes gequälten Blick. Sie war graugrün im Gesicht und hielt sich eine Hand vor den Mund. Alexa dagegen wirkte taufrisch wie immer. Ich sortierte meine Gliedmaßen und fühlte mich in meinem Sitz einigermaßen sicher. Bis die nächste Welle kam, das Boot sich seltsam schief legte und Wenke sich geräuschvoll in eine Tüte übergab. Und sie war nicht die einzige. Zwei Matrosen – oder wie man das auch nannte – verteilten identische Tüten in alle Himmelsrichtungen. Zumindest waren sie gut vorbereitet. Mich beruhigte die Tatsache, dass solch ein Seegang wohl normal war und die Gefahr zu kentern, hier offenbar niemandem Sorgen bereitete. Mein Magen beruhigte sich allerdings nicht. Die erneute Begegnung mit diesem Mann hatte mich ganz schön aus der Bahn geworfen. Noch dazu stieg mir der Geruch von Erbrochenem in die Nase. Das Boot hob und senkte sich in alle erdenklichen Richtungen, und es gab nirgends ein Fenster, durch das mein Gleichgewichtssinn sich am Horizont hätte orientieren können. Ich würgte.

»Hier.« Mit stoischer Ruhe hielt Alexa mir eine der Tüten vor die Nase. Wortlos nahm ich sie und übergab mich bei der nächsten Welle mit Wenke in Stereo. Das schöne Essen!

Nachdem wir nur noch Galle würgten, musterte Alexa uns kritisch.

»Alles raus? Gut, dann lutscht die Ingwerbonbons, die helfen gegen Übelkeit.« Kurze Pause. »Wirklich!«, fügte sie hinzu, als wir sie ungläubig anstarrten. Wir sollten jetzt etwas essen? Allein der Gedanke ließ mich erneut würgen.

Alexa hielt uns die Bonbons hin. »Los macht schon, schlimmer kann es ja wohl kaum werden.«

Ich seufzte resigniert und griff zu. Erstaunlicherweise half der Ingwer tatsächlich. Zumindest mir. Wenke dagegen würgte weiter und sah mich finster an, als wäre ich ganz allein schuld an ihrer Misere. Die ganze Situation war einfach zu bizarr. Mir war das alles zu viel. Doch anstatt zu schreien, brach ich in ein hysterisches Kichern aus.

»Lass das«, zischte Wenke. »Das ist nicht lustig!«

»Doch ist es«, kicherte ich weiter. Das hier sollte Urlaub sein, zum Henker! Stattdessen hatte ich Halluzinationen und wurde von meiner besten Freundin angepflaumt, die vollkommen ausgelaugt Galle in eine Tüte würgte.

»Ist es nicht!«, kreischte Wenke, doch es zuckte um ihre Mundwinkel. Alexa grinste.

Gleich hatte ich Wenke so weit. »Doch! Urlaub? Bisher war es die reinste Katastrophe! Es kann nur besser werden!«

Wenke kicherte und würgte kurz darauf. Ihr standen Tränen vor Anstrengung in den Augen. »Oder es wird noch schlimmer«, gluckste sie.

Das Boot kippte mit einem Ruck zur Seite. Ein Raunen ging durch die Menge, weitere Würgegeräusche überall um uns herum.

»Hui, sagte die Schnecke, die auf der Schildkröte ritt«, zwitscherte Alexa munter.

Wir starrten sie beide fassungslos an. Dann brachen wir alle drei in schallendes Gelächter aus.

 

Sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, ging es mir spürbar besser. Ich atmete tief durch – es roch nach Hafen, mit all seinen guten und schlechten Seiten. Der Wind erfasste meine Haare, die ich zu einem losen Zopf gebunden hatte, und Nieselregen sprühte mir ins Gesicht. Nach der Schreckensbootsfahrt empfand ich beides als wohltuend, obwohl ich Wind eigentlich hasste.

Die Hafenstadt von Pico hieß Madalena. Nur einen Katzensprung von der Fähre entfernt, fanden wir die Autovermietung und holten unseren im Vorfeld gebuchten Wagen ab. Um genau zu sein zwei, denn Alexa hatte auch ein Auto gemietet. Der Mann in der Zentrale brachte sich fast um vor Freundlichkeit, als er Alexa erblickte, die ihn in ihrer offenen Art anlachte.

Obwohl Wenke immer noch grün um die Nase war, und sehr blass aussah, kroch sie sogar pflichtgetreu unter beide Wagen, um eventuelle Schäden vorher aufzuzeigen. Das war Wenke – durch und durch praktisch veranlagt. Mit ihr unterwegs zu sein, bedeutete seinen eigenen Handwerker dabei zu haben. Und wenn sie nicht weiter kam, war ich dran. Telefonieren, reden, Papierkram abwickeln, alles deichseln. Gemeinsam mit Alexa, der jeder Mann gleich zu Füßen lag und darum bettelte, ihr behilflich zu sein, könnten wir vermutlich problemlos um die Welt reisen.

 

Unser Hotel lag eine halbe Stunde Fahrt die Küstenstraße entlang. Ja, auch das von Alexa. Es war nämlich dasselbe. Ihr wundert euch? Dann erleuchtet euch vielleicht die Tatsache, dass Pico klein ist. Sehr klein. Die Insel misst in der Länge 42 Kilometer und an der breitesten Stelle gerade einmal fünfzehn Kilometer. Ein Großteil des Inlandes – wenn man das bei der geringen Größe so nennen darf – wird von dem Vulkan Ponta do Pico beansprucht, der ganze 2.351 Meter Höhe vorzeigen kann und gleichzeitig der höchste Berg ganz Portugals ist.

»Es gibt noch mehr Hotels hier«, sagte Alexa achselzuckend, als wir uns kopfschüttelnd über den erneuten Zufall wunderten. »Aber das hier ist das Beste.«

Als wir an der Rezeption standen, hieß es, dass unsere reservierten Zimmer wegen Bauarbeiten nicht bewohnbar wären. Wenke und mir klappte der Unterkiefer runter. Das konnte doch wohl nicht deren Ernst sein!

»Es sind nur noch ganze Apartments verfügbar«, verkündete die Dame, ohne mit der Wimper zu zucken. »Diese stellen wir Ihnen selbstverständlich zum gleichen Preis zur Verfügung. Wenn Sie damit einverstanden sind.«

Wir starrten uns ungläubig an. Wir hatten zwei Einzelzimmer gebucht. Sowohl Wenke als auch ich zogen uns gerne mal allein zurück. Das brauchten wir für unseren Seelenfrieden. Zwei ganze Apartments nur für uns allein? Wir versuchten, nicht allzu zufrieden zu grinsen. Nach alldem, was seit Urlaubsanfang schon passiert war, fragten wir uns beide, wo der Haken war.

 

Es gab keinen. Unglaublich aber wahr, wir bewohnten nun alle drei je ein Apartment mit Bad, Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Terrasse und Sicht aufs Meer. Alexa hatte gleich so eines gebucht. Der reinste Luxus, zumindest für Wenke und mich. Da keiner von uns Lust hatte, noch einmal loszufahren, um einzukaufen, aßen wir abends im hoteleigenen Restaurant und plauderten ausgelassen. Sogar Wenke hatte ihr grünes Gesicht gegen ihren üblich frischen Teint getauscht und aß mit Appetit. Draußen regnete und stürmte es, während wir drei gemütlich einen ereignisreichen Tag ausklingen ließen.

 

Irgendjemand beobachtet mich!

Dieses unbehagliche Gefühl, nicht allein zu sein, riss mich ruckartig aus dem Schlaf. Ich öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich fühlte mich ausgeliefert, verletzlich. Die schemenhaften Umrisse eines Mannes traten hervor. Und ich wusste, dass er es war, obwohl keine Einzelheiten erkennbar waren. Ich traute mich nicht, mich zu bewegen. Aber die Angst lähmte mich ohnehin. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt gekonnt hätte. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich konnte schemenhaft seine Gesichtszüge erkennen. Er stand einfach nur da und sah durch mich hindurch, als wäre er mit seinen Gedanken weit fort. Er schien traurig. Oder eher besorgt? Ich war mir nicht sicher. Dann richteten sich seine Augen auf mich. Er erkannte, dass ich wach war, und lächelte mich an.

Du bist die Richtige, ich weiß es, wisperte er. Seine Stimme schien von überallher zu kommen und als flüsterndes Echo zu verebben.

Wer war der Mann? Was wollte er von mir? War er echt? War er aus Fleisch und Blut? In dem Moment, als ich das dachte, verblassten seine Konturen, bis er letztendlich verschwand.

Ich starrte auf die hinterlassene Leere – eine scheinbare Ewigkeit. Dann wagte ich es, mit zitternden Händen das Nachtlicht einzuschalten. Der Mann war fort. Oder war er überhaupt da gewesen? Bildete ich mir den Kerl nur ein? Träumte ich ihn?

Ich schlang die Arme um meinen zitternden Körper und wiegte mich selbst vor und zurück, um mein rasendes Herz zu beruhigen.

Aber weshalb sollte ich von ihm träumen? Vielleicht ihn erträumen? Wollte mir mein Unterbewusstsein etwas sagen? Aber was?

Ich schnaubte. Was wohl. Dass du einen Mann brauchst!

Das war allerdings nichts Neues, das wusste ich bereits. Dafür brauchte mich mein Unterbewusstsein nicht derart in Angst und Schrecken zu versetzen. Ich sehnte mich wie so viele andere nach einem Partner. Meine letzte Beziehung ging vor zwei Jahren in die Brüche. Wir hatten letztendlich nur noch nebeneinander her gelebt. Und um ehrlich zu sein, wusste ich nicht einmal, ob ich Frank überhaupt geliebt hatte. Gemocht ja, aber Liebe? Wir gingen nach drei gemeinsamen Jahren zwar nicht in Frieden, aber auch nicht im Streit auseinander. Es war nun einmal, wie es war – nur noch Langeweile, kein Feuer, nicht einmal Glut. Ich suchte nicht zwingend nach der ständig lodernden Flamme, doch ein wenig Begehren und Leidenschaft sollten schon vorhanden sein. Und Romantik. Das war für Frank ein Fremdwort gewesen. Ich war heute nicht gerade verzweifelt auf der Suche, doch an einsamen Abenden wünschte ich mir eine vertraute Nähe zu zweit. Und dieser Mann mit den schwarzen Haaren und seinen mindestens einsneunzig entsprach genau meinem Beuteschema. Also lag es nahe, dass ich ihn mir tatsächlich nur erträumte. Aber so echt? Als wäre er tatsächlich da? Das grenzte doch an Wahnsinn. War ich krank? War ich doch um vieles verzweifelter, als ich es mir eingestehen wollte?

Ich seufzte und verließ immer noch zitternd mein Bett. Ich brauchte ein Glas kaltes Wasser, um wieder runterzukommen. Doch bevor ich allerdings runter kam, musste ich hinauf. Und zwar in das obere Regal im Schrank über der Spüle. Dort fand ich die Gläser – außer Reichweite meiner wohlgeformten einsvierundfünfzig …

Ich knurrte vor mich hin, moserte etwas wie Schränke für Riesen und zog mir einen Stuhl heran. Vielleicht stand ich deshalb so auf lange Männer, weil die meine fehlenden Zentimeter kompensieren konnten. Einer musste ja an die süßesten Früchte herankommen. Und die wuchsen bekanntlich hoch oben.

Wenke meinte, dass es Verschwendung wäre, wenn jemand wie ich nichts unter einsachtzig an sich heranließ. Große Frauen hätten eh schon weniger Auswahl als Zwerge wie ich. Da müsste ich denen nicht auch noch die großen Sahneschnitten wegschnappen. Ich sah das anders. Die Welt war nun einmal nicht gerecht. Und weshalb sollte ich auf die süßen Früchte verzichten, wenn nur sie mir schenkten, was ich von der Liebe erwartete? Ich konnte mich nun einmal nicht in kleine Männer verlieben. Ich hatte es versucht. Ich fing da einfach nicht Feuer.

Durch meine Klettertour hatte ich ein Glas ergattert und war durch die nötige Konzentration, nicht vom Stuhl zu kippen, auf andere Gedanken kommen. Dabei half mir auch noch, dass ich auf dem Weg ins Schlafzimmer über meine eigenen Füße stolperte, lang hinschlug und das Glas mit Wasser quer über den Boden schüttete. Schimpfend rappelte ich mich wieder auf, begutachtete die Schäden, und humpelte zurück in die Küche, um das Glas erneut mit Wasser zu füllen. Zum Glück war es nicht zerbrochen. Wenke hatte schon recht damit, wenn sie behauptete, ich war Meisterin darin, über jedes Staubkorn zu stolpern …

Als ich endlich wieder im Bett lag, zitterte ich zwar nicht mehr, aber einschlafen konnte ich auch nicht. Stattdessen kamen mir die Worte des Mannes in den Sinn: Du bist die Richtige …Vor lauter Panik, wer der Mann wohl war und was er wollte, hatte ich seinen Worten kaum Beachtung geschenkt. Schon erstaunlich, wenn man bedachte, dass ein Traumbild tatsächlich zu einem sprach, als wäre es lebendig.

Du bist die Richtige, ich weiß es …

Wofür die Richtige? Für einen Ritualmord? Ich verzog das Gesicht und schnaubte in mein Kissen. Das war ein Gedankengang, den ich jetzt ganz und gar nicht gebrauchen konnte. Ich hatte doch gerade erst meinen zitternden Körper wieder unter Kontrolle. Falls der Mann meiner überschießenden Fantasie entsprach, brauchte ich mir zumindest keine Sorgen darüber zu machen, ob ich in Gefahr war. Wenn nicht …

Ja, was dann? War ich dann verrückt? Brauchte ich einen Psychiater?

Ich nagte an meiner Unterlippe herum. Sollte ich mit Wenke darüber reden? Sie würde mir garantiert sagen, dass ich geträumt hatte. Im Flugzeug und auch jetzt hatte ich vor dem Erscheinen des Mannes geschlafen. Es war die plausibelste Erklärung. Doch was war mit dem Mann auf dem Boot?

Ich wälzte mich eine lange Nacht von rechts nach links und wieder zurück. Erst in den frühen Morgenstunden schlief ich nochmals ein.

 

Viel zu früh holte mich ein energisches Klopfen aus unruhigen Träumen. Ich war schweißgebadet und todmüde.

»Bist du krank?«, fragte Wenke, als ich ihr mit verquollen Augen die Tür öffnete.

»Hmpf«, machte ich. »Schlecht geschlafen.« Dann verschwand ich ohne ein weiteres Wort in der Dusche.

Bevor ich auch nur daran denken konnte, Wenke von meinen Halluzinationen, Erscheinungen oder Visionen oder was auch immer es war, zu erzählen, tauchte Alexa auf – frisch wie Blütentau – und holte uns zum Frühstück ab.

Die Sonne schien und der Wind blies feuchte, warme Luft heran. Wir hatten für den ersten Tag im Urlaub nichts Besonderes geplant, also erkundeten wir die Gegend, fanden einen großen Einkaufsladen und besorgten uns, was das Herz begehrte. Ich kaufte auch noch den vergessenen Spritzschutz für die Kamera und Regensachen, beides würde ich laut Alexa dringend benötigen, wenn wir am nächsten Tag zum Whalewatching hinausfuhren. Wir besuchten noch ein Walfangmuseum, dann machten wir es uns mit Sekt und Knabberkram auf Alexas Terrasse bequem – die lag im Gegensatz zu unseren beiden im Windschatten – und genossen die wärmenden Sonnenstrahlen.

Was mir bereits an diesem ersten Tag auffiel, war, dass es auf Pico sehr feucht war. Ich meine so richtig feucht. Alles war klamm – Handtücher, Bettzeug, Klamotten, sogar Zeitschriften und Schreibblock. Die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass die Luft selbst zum Sättigen nicht ausreichte. Ich fragte mich, ob solch hohe Luftfeuchtigkeit nicht Probleme mit Schimmelbefall verursachte, doch ich konnte nirgends welchen finden. Vielleicht lag es am Salzgehalt? Keine Ahnung. Mir machte es jedenfalls nichts aus. Im Gegenteil, ich empfand es sogar als wohltuend. Meine sonst ständig trockene Haut schien förmlich aufzuatmen – endlich bekam sie, was sie brauchte.

Es wurde ein richtig entspannter Tag zum Seele baumeln lassen. Wir drei Mädels verstanden uns prächtig, faulenzten, schnackten und erkundeten das Hotelgelände. Der Garten war wunderschön in Terrassen angelegt. Seltsame Gewächse, Büsche und Bäume rundeten das Bild von exotisch blühenden Pflanzen ab. Es gab sogar einen kleinen Teich mit Fischen darin. Am faszinierendsten war die Aussicht. Ich blickte eine gefühlte Ewigkeit auf das rauschende Meer hinaus, dass sich viele Meter unter uns an den hohen Klippen brach. Zufrieden atmete ich die salzgesättigte Luft ein und bekam große Lust, einfach den gewundenen, steilen Pfad hinabzulaufen, um mich in die Fluten zu stürzen.

»Bist du verrückt?«, fragte Wenke. »Die Wucht der Wellen zermalmt dich da unten!«

»Ich weiß«, beruhigte ich sie. »Aber Lust habe ich trotzdem. Schade, dass es so stürmt. Siehst du die Leiter auf der anderen Seite der Bucht? Wahnsinn, was?«

Wenke legte ihre Hand über die Augen. »Ist das deren Ernst?«, stieß sie dann aus. »Die spinnen ja!«

Ich verstand ihre Aufregung. Es war tatsächlich halsbrecherisch, wie sich die dünnen Metallstufen mit Geländer die Steilklippen hinabwanden, um schließlich in der tobenden Gischt zu verschwinden. Und trotzdem juckte es mich in den Fingern.

Zum Abendessen zauberte ich uns ein leckeres Menü mit Mousse au Chocolat zum Nachtisch. Kochen war meine Leidenschaft. Ich entwarf für mein Leben gerne neue Kreationen und testete jedes Rezept, das mir zwischen die Finger kam. Je ausgefallener, desto besser. Wir schlemmten uns also durch den Abend. Ich war so zufrieden, dass ich sogar meinen nächtlichen Besucher vergaß.

An ihn dachte ich erst wieder, als ich allein in meinem Bett lag und dem erneut zunehmenden Wind lauschte. Um ganz sicher zu gehen, dass der Typ nicht doch echt war, stand ich noch einmal auf, verriegelte Türen und Fenster und kontrollierten alle möglichen Verstecke zweimal. Da war natürlich niemand, und ich hoffte, dass das auch so blieb. Sollte der Mann mich heute Nacht wieder besuchen, nahm ich mir fest vor, ihn zu fragen, was zum Henker er von mir wollte!

 

Unsere Whalewatchingtour war für zehn Uhr geplant. Ich hatte ungestört durchgeschlafen und war putzmunter und voller Vorfreude auf Wale und Delphine. Alexa schloss sich uns an und hoffte, noch einen Platz zu bekommen. Es stürmte. Morgens schien die Sonne noch vielversprechend, doch dann fing es an zu regnen. Als wir am Hafen ankamen, eröffnete man uns, dass bei diesem Seegang niemand hinausfuhr. Zum einen war es gefährlich und zum anderen könne man durch die hohen Wellen sowieso keine Wale sehen. Enttäuscht und etwas ratlos standen wir beisammen und beratschlagten, was wir nun tun sollten.

»Es gibt hier eine Lavagrotte«, sagte Alexa. »Die sehe ich mir gern auch ein zweites Mal an.«

Gesagt, getan. Es war nicht sehr weit. Wir erinnern uns: kleine Insel, 42 Kilometer lang, 15 Kilometer breit. Und wir hatten Glück, die nächste Führung begann in zwanzig Minuten. Bevor man unter die Erde gelassen wurde, gab es einen Einführungsvortrag. Fast wie in der Schule. Etwa fünfzehn Leute saßen brav da und warteten. Nur, dass wir freiwillig hier waren.

Und es gab noch einen gewaltigen Unterschied: »Wow! Ist der süß!« Wenke bekam Stielaugen und setzte ihre Flirtmiene auf. Unser Lehrer war ein junger Mann, vielleicht an die dreißig, mit halblangen, blonden Haaren und einem umwerfenden Grübchenlächeln. Er hieß Ludvig und kam aus Schweden.

»Das ist meiner«, wisperte Wenke Alexa zu, die sich gebannt vorgebeugt hatte. »Du bist verheiratet!«

»Gucken ist erlaubt«, grinste Alexa und verschlang den Kerl mit ihren Blicken.

»Seit wann stehst du auf Jüngere?«, flüsterte ich und musterte den Prachtkerl akribisch genau. Ich stand ja mehr auf dunkelhaarig und männlich-kantig. Der hier war mir zu glatt, irgendwie zu schön. Aber gucken tat ich trotzdem. Und wie. Sowas lief einem ja nicht alle Tage vor die Augen. Keiner von uns bekam etwas von seinem Vortrag mit. Erst als Ludvig kleine Beutelchen verteilte – Wenke schenkte ihm ihr bestes Lächeln –, horchten wir auf. Worum ging es?

»Ähm, was ist das?«, fragte ich und zog ein hauchdünnes Stück Stoff zum Vorschein.

»Oh, das hatte ich ganz vergessen«, seufzte Alexa. »Das ist ein Hygieneschutz. Den zieht man unter die Helme …«

»Helme?« Wenke starrte Ludvig erschrocken an. »Oh nein! Meine Haare!«

Sie sah zum Bemitleiden aus, als wäre ihre Welt am Untergehen. Helme, Haare platt und aus der Flirttraum?

»Deine Locken sind wie Sprungspiralen«, grinste ich. »Die werden so schnell nicht platt.«

»Das sagst du! Und außerdem …«

Ludvig hatte besagte Helme verteilt und Wenke starrte das Monstrum fassungslos an. »Oh Gott, wir werden aussehen wie die Bekloppten!«

Alexa kicherte, stülpte sich ihren Helm über und zog eine Grimasse. Sogar sie sah damit aus, als wäre sie gerade einer Anstalt entsprungen. Ich amüsierte mich köstlich über Wenkes entsetztes Gesicht. Es gab keinen Spiegel, aber wofür hatte man Kameras? Eine wilde Knipserei entflammte, wobei jeder von uns versuchte, das grauseligste Foto von dem anderen zu erwischen.

Ludvig kam näher und lachte uns fröhlich an. Er trug auch einen Helm, doch seiner war schnittig und cool. »Ihr scheint euch ja prächtig zu amüsieren«, schmunzelte er. Wir sahen uns alle gleichzeitig an und schielten um die Wette. Dann brachen wir in Gelächter aus.

»Wirklich schöne Gesichter kann nichts entstellen«, raunte er uns zu und zwinkerte Wenke an, die purpurrot anlief. Dann stieß er mich konspirativ an und zeigte zur Tür.

»Pass auf«, murmelte er mir zu. Dann rief er: »Und hier kommt euer Tourguide für heute! Das ist Pedro.« Ludvig winkte einen jungen Mann heran, der gerade zur Tür hereingekommen war – dunkle Augen, schwarze Haare, muskulöse, braungebrannte Arme, über die er gerade eine Jacke zog. Eine Schande, dass er so klein war. Ich schätzte ihn auf einsfünfundsiebzig. Alexas Blick switchte wie auf Knopfdruck von Ludvig zu Pedro hinüber und sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Ich sah förmlich, wie Pedro Feuer fing. Helm hin oder her, Alexa war einfach die Wucht.

Ludvig grinste breit. »Dachte ich‘s mir doch. Dann gehört ihr beide wohl mir!«

Na hör mal, dachte ich und wollte schon protestieren, doch Wenke trat mir ans Schienbein und blitzte mich vielsagend an. Also gut, ich würde meine Zunge zügeln. Wenke hatte es eindeutig erwischt. Ein Urlaubsflirt.

»Dir ist schon klar, dass die diese Art von Anmache professionalisiert haben?«, raunte ich Wenke zu, als wir gemeinsam hinter Pedro und Alexa den Vortragsraum verließen und Ludvig uns siegesgewiss hinterherlächelte.

»Ist mir egal«, grinste Wenke. »Der ist eh zu jung, aber für ein bisschen Spaß ist Lüdwik genau der Richtige.« Sie sprach den Namen extra typisch schwedisch betont aus, so wie er ihn ausgesprochen hatte. Nur, dass es bei ihr zum Piepen klang.

 

Eine steile Steintreppe führte hinab in die Grotte. Kühle, feuchte Luft empfing uns und ein Loch in der Decke schickte grün gefiltertes Licht durch das dichte Laubwerk über uns. Riesige Farne und Moose wuchsen dort, wo die Sonne noch hingelangte. Spaghettiartige Wurzeln hingen frei vom Höhlendach herab und dumpfe Tropfgeräusche drangen aus den Tiefen der Grotte zu uns herüber. Es war, als wären wir aus der Zivilisation direkt in eine fremde Welt gestolpert.

»Wow, wie … überirdisch«, fasste Wenke meine Eindrücke treffend zusammen.

So überirdisch schön der Eingang zur Grotte wirkte, genauso bizarr erwies sich das Innere. Wir befanden uns in einem Lavatunnel. Der steinerne Boden war an mehreren Stellen braun gefärbt und erinnerte an erstarrten, gerippten Meeresboden aus Sand. Von der gewölbten Decke hingen zapfenartige Gebilde, als wäre eine zähflüssige Masse dabei, auf uns herabzutropfen. Es wurde bald stockdunkel um uns herum, und ich war froh, einen Helm mit Beleuchtung zu haben, um nicht über die riesigen Gesteinsbrocken zu stolpern, die wahllos herumlagen, als hätte ein Riese sie achtlos von sich geworfen. Natürlich stolperte ich trotzdem. Wenke fing mich auf und kicherte. Ich verdrehte die Augen.

»Das spitze, poröse Gestein, auf dem ihr gerade geht, nennt sich hier „AA“«, erklärte Pedro. »Weil die Menschen sowas wie „Au, au“ sagten, als sie damals barfuß darüber liefen.«

Alexa lachte glockenhell und hing ihrem Portugiesen förmlich an den Lippen. Sie hatte garantiert etwas anderes im Sinn, als ihm zuzuhören, dachte ich und grinste in mich hinein.

Weiter hinten öffnete sich der Tunnel in einen breiteren Gang und mein Blick fiel auf eine Felsformation, die sich aus dem Boden wölbte. Es sah aus wie …

»Und? Wer kann sehen, was sich hier verbirgt?«, fragte Pedro. »Es gibt eine Legende darüber.«

»Ein Wal«, schloss ich meinen Gedankengang laut ab.

Pedro strahlte mich glücklich an. »Ganz genau!« Was er dann bezüglich der Legende erzählte, ging an mir vorbei, denn ein merkwürdiges Wispern erregte meine Aufmerksamkeit. Es klang, als würde sich jemand hinter der nächsten Biegung verstecken und mich rufen. War das ein Schatten? Ich verharrte gebannt und lauschte. Es tropfte und plätscherte – plopp, pitch, plopp, patsch. Das Wispern suchte sich erneut den Weg zu mir.

… dein Land … gehörst hierher … fühle es …

Ich fröstelte unbehaglich, konnte mich dem Bann der Worte aber nicht entziehen. Wie magisch angezogen, schlich ich näher und hielt vor Spannung den Atem an. Ein unbehagliches Gefühl durchdrang meine Eingeweide, es kribbelte auf meiner Haut – eine Warnung? Das Licht meiner Helmlampe warf tanzende Schatten an die Wände, an denen goldene und schneeweiße Kristalle zu wachsen schienen. Als ich um die Ecke lugte, entdeckte ich weit herabhängende Stalaktiten aus Lava, an denen Wasser herab in ein salzkristallähnliches Becken tropfte. Ich atmete flach, leuchtete angespannt die Umgebung ab, doch außer bizarren Felsformationen und flüchtenden Schatten war da niemand.

… dein Land …, wisperte es direkt in meiner Nähe und hallte als Echo durch die Grotte. Erschrocken zuckte ich zusammen, wich hastig zurück und stieß mit dem Rücken an die steinerne Wand.

… du gehörst hierher … spüre es … erinnere dich …

Die Stimme schien von überallher zu kommen. Panik packte mich und ich setzte zur Flucht an. Da erhellten Dutzende Lampen den Raum.

»Oh, wie wunderschön!«, stieß Wenke neben mir aus.

»Das, was aussieht wie goldene und weiße Kristalle dort an den Wänden«, erklärte Pedro und ging schnurgerade auf die glitzernden Stellen zu, »das sind bakteriell entstandene Ablagerungen.« Er fuhr fort, über die Lavagrotte und all ihre Wunder zu berichten. Ich stand wie betäubt da und versuchte die Realität zu erfassen. Hatte denn keiner das Wispern gehört? Es war so laut gewesen … Ich fröstelte erneut und schlang die Arme um mich selbst.

»Kühl hier, was?«, meinte Wenke. »Gut, dass wir zumindest Jacken anhaben. Aber ist das nicht fantastisch? Was die Natur ganz allein an Schönheit gestaltet – umwerfend!«

»Hast du das Wispern gehört?«, fragte ich und horchte in den Tunnel hinein. Nichts, nur das Gemurmel der Touristen.

»Was für ein Wispern?«, fragte Wenke.

Ich zuckte mit den Schultern. »Es war wohl nur das Plätschern der Wassertropfen«, sagte ich leise und zog meine Jacke enger.

Wenke sah mich scharf an. »Was für ein Wispern?«, wiederholte sie.

Ich seufzte. »Keine Ahnung.« Ich achtete darauf, dass niemand anderes uns hörte. »Jemand sagte sowas wie Du gehörst hierher, dein Land, oder so ähnlich. Es hat sich zumindest so angehört«, entschärfte ich das Gesagte sofort.

Wenke musterte mich, das Licht ihrer Lampe direkt auf mein Gesicht gerichtet.

»Das blendet, lass das«, knurrte ich ungehalten. Langsam wuchsen mir die seltsamen Vorkommnisse über den Kopf. Jetzt hörte ich auch noch Stimmen. Das hieß, der Mann hatte auch gesprochen, doch das hier war anders gewesen. Irgendwie ursprünglicher. So, als spräche eine uralte Kraft.

Ach, was redest du dir da ein!, rief ich mich zur Ordnung. Das war doch Irrsinn. Ein Mann, Stimmen, eine uralte Kraft, was für ein Unfug!

»Ich glaube, ich bin wirklich mehr als urlaubsreif«, seufzte ich und Wenkes Gesichtszüge wurden sanfter.

»Das kannst du wohl sagen. Aber solch eine alte Grotte kann einen schon in ihren Bann ziehen und die Fantasie beflügeln. Genau so etwas hier ist Inspiration pur, wenn es um Magie und Paranormales geht.« Sie stieß mich verschwörerisch an. »Schade, ich hätte das Wispern auch gerne gehört. Wie schaurig spannend!«

Fantasie, Magie … Ging wirklich nur meine kreative Ader mit mir durch? Ich sah mich im Lavatunnel um. Die ungewohnten Gesteinsformationen und glitzernden Kristalle luden förmlich dazu ein, Legenden und Mythen zu erschaffen. Aber was war mit dem Mann?

 

Am Ausgang des Tunnels empfing uns Ludvig »Na? Fantastisch, was?«

»Der absolute Wahnsinn!«, strahlte Wenke. »Wie aus einem Fantasyroman!«

»Und wie hat es dir gefallen?«, fragte er mich und strahlte mich an. Ich riss mich zusammen und brachte ein Lächeln zustande. Ich suchte nach Worten, die leicht und euphorisch klangen, so wie bei Wenke, doch letztendlich hörte ich mich das sagen, was mich bewegt hatte. Ich sah dabei zurück, die steile Treppe hinab, und fühlte mich fast aus der Wirklichkeit entrückt.

»Eine ursprüngliche Schönheit. Als würde eine uralte Kraft die Tunnel durchziehen.« Ich hielt inne, zögerte. »So, als ob man das Herz dieser Insel berührt …«, hauchte ich.

Ludvig lächelte. Ich spürte, dass er meine Empfindungen nicht teilte.

»Wie poetisch!«, zwitscherte Alexa. Wenke betrachtete mich seltsam berührt. Sie kannte mich zu gut, als dass sie nicht spürte, dass mich irgendetwas beschäftigte.

Pedro löste sich von Alexa und sah mich mit seinen braunen Augen sanft an. »Eine Kraft, die die Entstehung von Pico widerspiegelt.«

Ich sah ihn nur an. Er lächelte. »Diese Kraft spüren eigentlich nur wir Kinder der Azoren. Du musst eine sehr empfängliche Seele haben. Du hast auch den Wal sofort erkannt. Noch bevor ich meine Frage stellte …« Er legte den Kopf schief. »Wie war dein Name?«

»Meli«, antwortete ich automatisch. Pedro sah mir tief in die Augen.« Willkommen auf Pico, Meli. Dieses Land begrüßt dich als eine der unseren.«

Ich starrte Pedro beklommen an. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Eine seltsame Vertrautheit erfasste mich, als würde ich diese Insel nicht zum ersten Mal besuchen. Wie eine Art Wiedererkennen, obwohl mir hier alles fremd war. Doch es fühlte sich nicht fremd an. Ganz im Gegenteil. Ich hatte mich von Anfang an hier wohlgefühlt, seit ich einen Fuß von Bord an Land gesetzt hatte. Durch die gelinde gesagt anstrengende Überfahrt und meine Begegnungen mit diesem Mann war mir das nicht so bewusst geworden, doch ich mochte diese Insel. Mich störte nicht einmal der ständige Wind oder der strömende Regen. Die Temperaturen waren wie für mich geschaffen – nicht zu heiß, nicht zu kalt. Haut und Haare waren seidig wie nie zuvor. Sogar die hohe Luftfeuchtigkeit bekam mir.

»Wow, Gänsehautfeeling«, meinte Alexa. Wenke sah mit erhobenen Augenbrauen von einem zum anderen. Ich spürte, dass sie Fragen hatte. Viele.

Pedro ließ sich nicht ablenken. Er sah mich an, bis ich mich von meinem surrealen und doch so erdgebundenen Gefühlserlebnis erholt hatte.

»Danke«, flüsterte ich. Pedro nickte nur. Seine Botschaft war angekommen, ich würde nun mit anderen Augen sehen – nicht nur alles, was die Insel anging, sondern auch meine Halluzinationen. Irgendjemand oder irgendetwas wollte mir etwas sagen, mir etwas mitteilen. Ich musste zuhören und mich darauf einlassen. Ich musste herausfinden, was die seltsamen Begebenheiten zu bedeuten hatten, die mich seit dem Flug hierher begleiteten.

 

»Wann sagst du mir endlich, was mit dir los ist?«, zischte Wenke, als wir, mit Telefonnummern der beiden Männer versehen, das Gelände um die Grotte verließen. Wir hatten uns alle für den Abend verabredet. Die beiden Männer hatten ihre letzte Tour gegen vier Uhr.

»Das weiß ich auch nicht so genau«, murmelte ich geistesabwesend. Wenke ergriff meinen Arm und zog mich zu sich heran. Dann stemmte sie beide Fäuste in ihre Hüften und funkelte mich mit ihrem Wir sind Freunde Blick an, der mich daran erinnern sollte, dass wir keine Geheimnisse voreinander hatten.

Ich seufzte. »Also gut.«

»Habt ihr was zu bereden?«, fragte Alexa und musterte mich neugierig. »Das war ja schon recht seltsam, da eben gerade.«

Ich nestelte unbehaglich an meiner Regenjacke herum.

»Ich geh dann mal vor zum Auto«, sagte Alexa erstaunlich feinfühlig. Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut.

»Nein, bleib ruhig«, sagte ich in einem Anflug von Sympathie. »Oder noch besser, lasst uns ins Auto steigen.« Ich schaute vielsagend gen Himmel. Es hatte schon wieder zu regnen begonnen.

Als wir endlich im Trockenen saßen, druckste ich noch etwas herum, bevor ich damit herausrückte, was mich beschäftigte. Dann erzählte ich von dem Mann im Flugzeug, den ich auch auf dem Boot und in der ersten Nacht hier gesehen hatte. Wenkes Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Sie war eine Pragmatikerin, stand mit beiden Beinen fest auf der Erde und glaubte kein Stück an paranormale Phänomene, höhere Energien oder Magie. Ich sah das etwas lockerer, doch im Großen und Ganzen, hatte ich bei sowas auch meine Zweifel. Und nun zog ich hier tatsächlich in Betracht, dass mich ein Geist oder sowas in der Art besuchte. Ich verstand ihre Skepsis. Und auch ihren Gedanken, dass ich mehr als nur überarbeitet war. Ich selbst hatte ja auch schon das Wort verrückt im Sinn gehabt. Ich sah sie an und seufzte. »Ich weiß, das klingt alles … Unwahrscheinlich …«

Sie hob die Augenbrauen. Unwahrscheinlich war für sie noch zu milde ausgedrückt. Trotzdem fuhr ich fort. »Er sagte, Du bist die Richtige. Ich habe nur keine Ahnung wofür«, sagte ich etwas hilflos.

»Ich erinnere mich«, sagte Alexa. »Der Mann im Flugzeug!«

»Du hast ihn gesehen?«, fragte Wenke in einer Mischung aus hoffnungsvoller Erleichterung, dass es diesen Mann gab, und Unruhe darüber, dass mich jemand womöglich stalkte.

»Nein.« Alexa schüttelte den Kopf. »Meli hat mich gefragt, wo der Mann geblieben wäre, der eben noch neben ihr saß. Sie war gerade aufgewacht. Ich dachte, sie hätte geträumt. Ich habe ihn nicht gesehen, aber wer sagt, dass er deshalb nicht echt sein kann? Er war offenbar nur für dich bestimmt, Meli! Wie spannend!«

Wenke sah etwas distanziert von Alexa zu mir und runzelte die Stirn. Ihr Schweigen sagte mehr als Worte. Wäre es nicht ich selbst, die es erlebt hatte, hätte ich auf Alexas spontanen Glauben ähnlich reagiert. Ich hätte sie für naiv gehalten, doch jetzt …?

… Für dich bestimmt … Du bist die Richtige … Du gehörst hierher … Dein Land … Erinnere dich … Spüre es … Willkommen auf Pico, Meli … Dieses Land begrüßt dich als eine der unseren …

Der Mann und das Flüstern im Lavatunnel … Gehörten beide Phänomene zusammen, oder ging es um verschiedene Dinge? Wenn ja, gab es dann trotzdem einen Zusammenhang?

»Und in der Grotte, hast du da den Mann noch einmal gesehen?«, riss Alexa mich aus meinen Gedanken.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, da war so ein Flüstern.« Ich sah Wenke an. »Es fühlte sich an, als ob eine uralte Kraft spräche …« Bei der Erinnerung überlief mich wieder ein Schauer.

»Und du hattest Angst?«, sagte Alexa. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich nickte. Panische Angst. Doch auf einmal wurde mir bewusst, dass Pedros Worte mich ein wenig beruhigt hatten.

»Aber eigentlich bin ich nicht bedroht worden … Ich glaube nicht, dass es gefährlich ist. Was auch immer es ist«, überlegte ich. Es war nur reichlich erschreckend, plötzlich übernatürliche Erfahrungen zu machen. Falls es denn welche waren, und ich nicht doch ein paar Pillen brauchte.

»Ich hätte vor Schreck losgekreischt«, gab Alexa grinsend zu.

Ich lächelte sie dankbar an.

Wenke druckste herum und suchte nach den richtigen Worten. »Ich finde, du solltest in Betracht ziehen, dass nichts davon real ist«, begann sie vorsichtig.

»Oh, das habe ich. Ich dachte schon, ich werde irre«, sagte ich trocken. »Aber irgendwie …« Ich zögerte. Irgendetwas wollte mir etwas sagen. Und wenn es nur mein Unterbewusstsein war, dann sollte ich darauf hören und herausfinden, was mich bedrückte oder belastete. Ich versuchte, Wenke diesen Standpunkt zu erklären.

»Wenn ich mir alles nur einbilde, dann muss es auch dafür einen Grund geben, oder?«

»Man hört normalerweise keine Stimmen oder sieht Menschen, die nicht da sind«, meinte Wenke wenig überzeugt. »Schon gar nicht am helllichten Tag. Da steckt dann meist schon etwas Ernstes dahinter. Träume, ja, aber das hier? Ich glaube eher, dass du überanstrengt und erschöpft bist und dadurch auch am Tag kurz in Tagträume fällst. Es kann sein, dass dein Unterbewusstsein dabei etwas bearbeitet.«

Ich nickte. »Gut möglich. Aber auch dann muss ich herausfinden, was. Also ist es im Grunde egal, ob es übernatürlich ist oder nicht.«

»Hm, da hast du wohl recht«, gab Wenke nachdenklich zu.

»Na, dann kann Meli ja jetzt beruhigt sein und sich auf die nächste Erscheinung freuen, anstatt Angst zu haben«, meinte Alexa fröhlich. »Und? Sieht er denn zumindest gut aus?« Sie spielte übertrieben mit den Augenbrauen und zwinkerte mir zu. Irgendwie gelang ihr das nur halb. Sie sah aus wie eine Eule.

Ich grinste breit. »Jupp, genau wie mein Traummann sein müsste. Bestimmt einsneunzig, schwarze Haare, männliche, etwas härtere Züge, gut bemuskelt und unfassbar grüne Augen.«

»Das klingt aber schon nach echten Träumereien.« Wenke verdrehte die Augen und schmunzelte. Für sie war das der eindeutige Beweis dafür, dass ich mir alles einbildete, weshalb auch immer.

»Ich finde, das klingt zum Ansabbern!«, stieß Alexa aus. »Schade, dass man Visionen nicht teilen kann. Den Typen würde ich gerne mal live sehen!«

Egal, wer nun recht hatte, darüber zu sprechen, hatte geholfen. Ich fühlte mich nur noch halb so unwohl und konnte in das Lachen der beiden mit einstimmen.

 

Die Stimmung hielt. Am Abend gingen wir mit Ludvig und Pedro Essen und amüsierten uns später in einem Pub. Dort stießen wir auf Freunde von Pedro – drei Männer und zwei Frauen. Der Alkohol floss, Pedro flirtete wie wild mit Alexa, die offenbar kein Kind von Traurigkeit war.

»Gucken, riechen, schmachten erlaubt, gegessen wird zu Hause«, wisperte sie mir zu und kurbelte ihren Charme auf Hochtouren. Wenke war nach drei Gläsern Rotwein wieder die Alte – vergessen war ihre Sorge um meine geistige Gesundheit, angesagt war Ludvig, der sich von ihrer vollkommen natürlichen Art anstecken ließ und mit ihr herumalberte, als wären sie Teenager auf einer Strandparty. Und ich? Wären wir allein geblieben, hätte ich mich vermutlich wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Doch Pedros Freunde waren nette Gesellen und ich hatte noch nie Probleme damit gehabt, neue Bekanntschaften zu schließen. Es wurde ein wirklich netter Abend und eine kurze Nacht.