Leseprobe zu "Marit Rolfsdóttir-Drei Monate"

 

 

 

Er wartete geduldig im Schatten des Waldes. Die Nacht war schwarz – kein Mond, keine Sterne. Nicht einmal Licht durch eine Straßenlaterne, dafür hatte er gesorgt.

 

Stille umgab ihn, nur ein stetes Rauschen durch die entfernte Autobahn war zu hören.

 

Er stand da – geduldig und bereit. Er wusste, er musste nur warten.

 

Und seine Geduld wurde belohnt. Der junge Mann kam die Straße herauf, seine Hände tief in die Taschen geschoben, die Schultern gegen die kühle Nachtluft hochgezogen, um seinen kostbaren Hals vor dem leichten Wind zu schützen. Er hustete, spuckte vor sich auf den Weg und kam rasch näher.

 

Der Mann im Schatten spannte sich an. Gleich. Gleich war es so weit.

 

Er trat einen Schritt auf die Straße, als der Mann an ihm vorbeiging, dann schnellte er vorwärts und legte ihm zielsicher eine Schlinge um


den Hals. Der junge Mann brachte nur ein Grunzen hervor, bevor sich die Schlinge zuzog und ihm die Luft zum Schreien raubte. Er versuchte, sich zu wehren – schlug um sich, trat und riss –, doch er traf nur ins Leere. Der Mann war stärker. Viel stärker. Stumm zog der Angreifer den jungen Mann mit sich in den Wald hinein. Äste knackten, Nadeln raschelten. Dann wurde es still.

 

Der Mann hatte sein Opfer zu Boden gestoßen und hielt nun ein Messer in der Hand. Die Klinge blitzte im Schein einer Taschenlampe auf, vor die er ein Foto hielt.

 

»Erinnerst du dich?«, presste der Mann hervor. Dann lachte er leise.

 

Die vor Wut und Angst blitzenden Augen des jungen Mannes weiteten sich, und die Erkenntnis sackte in sein Bewusstsein, bevor der Mann ihm mit einer ruckartigen Handbewegung die Kehle durchschnitt.

 

Blut tränkte den Waldboden und die Augen des Opfers wurden starr.


2. »Wir haben einen Mord!«

 


 

Die Explosion sprengte einen Großteil der Flugzeugwand weg, und der Sog schleuderte sie in eine der Sitzreihen. Ihr Trommelfell platzte, alle Geräusche wurden zu einem in Watte gepackten Dröhnen, überlagert von einem hohen Pfeifton, der ihr Gehirn zu zerreißen drohte. Sie klammerte sich an der Lehne des Sitzes fest, während der Sog des Druckausgleichs an ihr zerrte. Das kleine Privatflugzeug kippte zur Seite und neigte seine Nase nach unten. Sie zog sich auf die Beine, Blut lief ihr aus einem Ohr die Wange hinunter. Der Wind heulte, die Motoren jaulten, doch sie vernahm alles um sich herum gedämpft. Der hohe Pfeifton bohrte sich weiter in ihr Gehirn und erschwerte ihr das Denken. Sie zog sich vorwärts, zum klaffenden Loch in der Flugzeugwand gegenüber, um sich ein Bild zu machen. Sie klammerte sich fest und starrte in die Tiefe. Der Ozean unter ihr kam schnell näher. Sie stürzten ab und niemand würde es verhindern können. Sie warf einen Blick durch das Flugzeug – Leichen, wohin sie auch sah. Die Tür zum Cockpit stand sperrangelweit offen und zeigte Pilot und Copilot leblos in den Sitzen hängend. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Ihr blieb keine Wahl, sie musste abspringen, bevor das Flugzeug auf der Wasseroberfläche zerschellte.

 

Sie zögerte nicht. Als sie die kleinen Schaumkronen auf dem Ozean klar erkennen konnte, sprang sie und fiel. Und fiel. Und fiel …

 

 

 

Mit einem Ruck erwachte Marit und wäre fast aus dem Bett gefallen. Sie atmete hektisch ein und aus, bis das Schwindelgefühl langsam nachließ und sich ihr rasendes Herz beruhigte.

 

Was für ein Traum. Er war so verdammt echt gewesen, so als würde sie tatsächlich fallen. Sie erschauderte. Das Gefühl hing immer noch in ihr nach, als hätte sie den Sturz aus dem kleinen Flugzeug gerade wirklich erlebt.

 

Wie spät war es überhaupt?

 

Ihr Blick fiel durch die Dunkelheit auf die rot leuchtenden Ziffern auf dem Stuhl neben ihrem Bett. Halb fünf. Sie seufzte. Viel zu früh. Trotzdem schwang sie die Beine aus dem Bett. Sie war viel zu aufgewühlt, um noch einmal einzuschlafen. Pures Adrenalin pulsierte durch ihren Körper und wartete auf seinen Einsatz. Da half nur eines – Laufen.

 

Marit band ihre schulterlangen, dunkelbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz hoch, schlüpfte in ihre Joggingsachen und überwand den inneren Schweinehund, der nach Kaffee und Schokolade verlangte. Stattdessen trat sie hinaus in die Stille des Morgens und atmete die kühle, frische Luft in ihre Lungen. Zumindest regnete es nicht. Ihre Füße fanden von selbst ihren Takt, Laufen gehörte seit Jahren zu Marits täglicher Routine. Meistens lief sie sich allerdings abends den Alltagsstress vom Leib – Arbeit, Kinder, Mann, Haushalt.

 

Wut stieg in ihr hoch.

 

Marit presste die Lippen aufeinander und legte noch einen Zahn zu. Dieser verdammte Bastard! Wie hatte er ihr das nur antun können? Fünf Jahre hatte sie an Roger verschwendet. Fünf ihrer besten Jahre, wenn man bedachte, dass eine Frau ab fünfunddreißig nur noch abbaute. Zumindest aus seiner Sicht. Cellulite kam, um zu bleiben, und alles würde sich ab jetzt gen Süden bewegen. Alles waren ihre Titten. Und die Pobacken. Und …

 

Verdammt! Dieser Bastard hatte sie einfach ausgetauscht, gegen eine Jüngere. Viebeke. Die hübsche Kollegin. Vor gar nicht langer Zeit saß sie noch kaffeetrinkend in Marits Küche. Hätte sie gewusst, dass diese Schlampe da schon ihren Mann vögelte …

 

Marit ballte die Fäuste und rannte sich die aufgestaute Wut vom Leib.

 

Mann war vielleicht zu viel gesagt. Feigling traf es besser. Vor drei Monaten hatte sie ihn geradeheraus gefragt, ob er eine Affäre hätte, und dieser Bastard hatte es verneint. Zu dem Zeitpunkt trafen er und Viebeke sich bereits knapp ein Jahr. Nicht zu fassen! Wie konnte sie nur so blind sein? Sie war Polizistin, verdammt nochmal! Zu merken, wann etwas nicht stimmte, war ihr Beruf! Wäre diese Schlampe nicht dumm wie Brot, hätte Roger sich immer noch um die Entscheidung herumgedrückt, anstatt klaren Tisch zu machen. Ja, es lief schon seit längerem nicht mehr wirklich gut zwischen Marit und Roger. Zum Glück hatten sie nie geheiratet. So war die Trennung einfacher. Vor drei Tagen hatte sie durch Zufall einen Eintrag von Viebeke auf einer Social-Media-Seite gesehen – öffentlich gepostet.

 

»Oh, was für ein wundervolles Wochenende mit meinem Liebsten und der Schwiegermutter in spe! Besuch im Botanischen Garten in Malmö, so ein schöner Nachmittag! Leider kann ich euch immer noch nicht sagen, wer mein Schatz ist. Geheim, psst … ;)«

 

Marit hatte eins und eins zusammengezählt. Endlich. Es war genau das Wochenende, an dem sie gearbeitet hatte und Roger mit seiner Mutter in den Botanischen Garten nach Malmö gefahren war. Der Rest war einfach. Sie hatte Roger zur Rede gestellt und behauptet, Viebeke hätte gepostet, dass sie zusammen wären. Ob er es immer noch leugnen wollte, dass er fremdginge? Sein erbärmliches Rumgedruckse war Antwort genug gewesen. Marit hatte kurzerhand Viebeke angerufen und sie zur Rede gestellt. Sie war weniger zimperlich, dafür strohdumm. Als Marit erfuhr, dass die beiden sich bereits viele Monate trafen, platzte ihr der Kragen. »Du sitzt seelenruhig in meiner Küche zum Kaffeeklatsch und schläfst nebenbei mit meinem Mann?!«

 

»Ich … ähm …« Zumindest hatte sie den Anstand gehabt, betroffen zu klingen. Doch dann die Aussage, die dem Fass den Boden ausschlug. »Er hat gesagt, du weißt es und es macht dir nichts aus!«

 

Marit schnappte noch immer nach Luft, wenn sie daran zurückdachte. Im Ernst? Oh ja, sie glaubte ihr. Es passte hervorragend zu diesem Feigling. Er hatte sich nicht getraut, die Konfrontation von sich aus zu suchen und ihr zu sagen, was Sache war. Nicht einmal, als sie ihn darauf ansprach. Doch alles so zu arrangieren, dass es, uuuups, herauskam, das schaffte er. Es war ein kleines Wunder, dass Viebeke beim Kaffee nicht irgendetwas Verräterisches gesagt hatte. Jetzt verstand Marit auch, weshalb Roger sich fast die ganze Zeit mit den Kindern beschäftigt hatte. Er hielt sich aus der Schusslinie und stellte Viebeke direkt ins Kanonenfeuer. Dieser verdammte Feigling! War sie so furchteinflößend, oder war er wirklich noch erbärmlicher, als sie es ohnehin schon lange geahnt hatte?

 

Marit schnaubte und lief weiter.

 

Die Kinder. Seine Kinder. Sara und Lukas, sieben und fünfzehn Jahre alt. Als Marit bei Roger einzog, war Sara gerade einmal zwei Jahre alt gewesen. Für sie war Marit wie eine Mutter. Lukas hatte Marit mit der Zeit zwar akzeptiert, doch richtig nahe waren sie sich nie gekommen. Der Tod seiner Mutter hatte ihn schwer getroffen, und Marit sah er anfangs als Bedrohung für ihr Andenken. Sie hatte es verstanden und ihm Raum gegeben. Es hatte funktioniert. Sie liebte beide Kinder. Was sollte nun werden?

 

Marit hatte nach der Konfrontation vor drei Tagen ihre Koffer gepackt und war ausgezogen. Im Gegensatz zu Roger fackelte sie nicht lange, wenn wichtige Entscheidungen anstanden. Zumindest nicht, wenn es darum ging, das letzte bisschen Würde zu retten, dass ihr geblieben war.

 

 

 

Marit lief die drei Stufen zu der kleinen Veranda hinauf, die zu ihrem derzeitigen Schlafplatz gehörte. Als mehr konnte man die fünfzehn Quadratmeter nicht bezeichnen, die Marit täglich vierhundert Kronen kosteten. Eine der typischen Touristen-Campinghütten am Ortsrand. Was anderes hatte sie auf die Schnelle nicht auftreiben können. Wenn sie nicht bald eine günstigere Bleibe fand, sah es mit ihren Finanzen für den kommenden Monat schlecht aus.

 

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich sputen musste. Sie hastete durch ein paar Dehnübungen, setzte Kaffee auf und eilte zu den Gemeinschaftsduschen des Campingplatzes. Um diese Jahreszeit war nicht mehr viel los, der Herbst brachte in diesem Jahr nur Regen und kalte Luft. Die Böden waren bereits bis zur Sättigungsgrenze aufgeweicht, kleine Seen bildeten sich auf den im Sommer saftigen Rasenflächen. Wiesen und Äcker standen teilweise ganz unter Wasser, und der Lagan trat über die Ufer. Im Sommer hatten sie sich noch über die Trockenheit aufgeregt, sogar zum Wassersparen waren die Kommunen aufgerufen worden. Und nun ertranken sie fast.

 

Frisch geduscht und mit einer Tasse Kaffee in der Hand drückte Marit auf die Schnellwahltaste. Sie wollte Sara rasch noch einen guten Morgen und einen schönen Tag wünschen. Und ihr sagen, dass sie sie liebte. Für die Kleine war ihr Auszug ein Schock gewesen, und Marit versuchte für sie da zu sein, so oft es ihr möglich war.

 

»Hallo?« Rogers Mutter Birgitta. Viebekes Schwiegermutter in spe, die ganz genau gewusst hatte, dass ihr Sohn Marit betrog. Marit biss die Zähne zusammen. Augen zu und durch.

 

»Hallo, hier ist Marit. Ich will nur ein paar Worte mit Sara wechseln, bevor sie zur Schule fährt.«

 

»Sara ist schon los«, antwortete die falsche Schlange, unüberhörbar missmutig über ihren Anruf.

 

»Wer ist das?«, hörte Marit Saras hohe Kinderstimme aus dem Hintergrund. »Ist das Mama?«

 

Marit unterdrückte einen derben Fluch, der ihr auf der Zunge lag.

 

Verfluchte Hexe, hallte eine Stimme durch ihren Kopf. Worauf wartest du? Sie hat es verdient!

 

Marit drängte die Stimme beiseite. »Gib mir Sara, bitte«, sagte sie betont ruhig.

 

Birgitta ignorierte sie. »Nein Liebling, jemand hat sich verwählt«, sagte Birgitta zu Sara und dennoch ins Telefon, damit Marit auch jedes Wort mithörte. »Und sie ist nicht deine Mutter, also nenn sie Marit, so wie Lukas es auch tut.«

 

In Marit kochte die Wut hoch. Birgitta hatte es noch nie gepasst, dass Sara sie Mama nannte, doch das hier war der Gipfel der Unverschämtheit.

 

»Ich glaube dir nicht«, sagte Sara altklug. »Ich habe ihre Stimme gehört!«

 

»Sei nicht so frech, sonst …« Mehr bekam Marit nicht zu hören. Birgitta hatte aufgelegt.

 

Zitternd vor Wut warf Marit das Handy auf den Tisch.

 

Dieses verdammte Miststück!

 

 

 

»Du siehst aus, als würdest du jemanden töten wollen«, begrüßte Niklas Marit auf dem Revier.

 

»Sei bloß still, sonst trifft es noch unfairerweise dich«, knurrte sie. Er hob fragend die Augenbrauen. Sie hob beide Hände. »Und ich will nicht darüber reden!«

 

»Kaffee?«, fragte er, musterte sie kurz und verkniff sich weitere Kommentare.

 

»Oh ja, eine ganze Kanne«, knurrte Marit und ließ sich in ihren Stuhl fallen. Ihr eigener Kaffee stand kalt auf dem einzigen Tisch in der kleinen Hütte. Sie hatte nicht die Ruhe gehabt, dort weiter ihren düsteren Gedanken an Mord am Schwiegermonster nachzuhängen.

 

Ein wenig würgen und zusehen, wie ihre Augen rausquellen?, fragte die Stimme in ihrem Kopf hinterlistig.

 

Marit kniff die Lippen zusammen und nahm dankbar die Kaffeetasse entgegen, die Niklas ihr reichte. »Und? Gibt es etwas, womit ich mich ablenken kann?«, fragte sie mürrisch und nahm den ersten Schluck. Sie verzog das Gesicht. »Wann kaufen die endlich einmal vernünftigen Kaffee. Das Gebräu schmeckt widerlich.« Trotzdem trank sie gleich noch den nächsten Schluck und sah zu Niklas auf, der sie kopfschüttelnd betrachtete.

 

»So schlimm?«

 

»Schlimmer«, knurrte sie.

 

Er nahm einen Zettel zur Hand. »Ein neuer Einbruch, diesmal der Svenssonhof«, informierte er sie.

 

»Lass mich raten.« Sie seufzte. Hier passierte wirklich nie etwas Spannendes. »Geklaut wurden Bootsmotoren.«

 

Niklas ließ die Augenbrauen tanzen. »Du solltest Polizistin werden, was für ein Spürsinn!«, neckte er sie.

 

Vernasch ihn endlich, es wird Zeit, er ist wie für dich geschaffen, sagte die Stimme in ihrem Kopf anzüglich.

 

Marit verdrehte die Augen. Niklas hatte gemeinsam mit ihr die Polizeischule absolviert. Seitdem gingen sie durch dick und dünn. Niklas war bereits damals mit Pia liiert gewesen und hatte sie vor kurzem geheiratet. Pia war eine lebensfrohe Frau Anfang dreißig und sowohl optisch als auch charakterlich das genaue Gegenteil von Marit. Niklas und Marit waren Kollegen, Partner und Freunde, die gelegentlich nach dem Dienst gemeinsam saufen gingen. Etwas, das Pia nie tat, und sie mit Freuden Marit überließ. Eifersucht gab es nicht, Pia wusste mehr als gut, dass Niklas` Eier ihr gehörten. Genauso wie Marit es wusste. Niklas war wie ein Bruder, den sie nie gehabt hatte. Und Pia war die jüngere, brave Schwester, die sich ab und zu mal von Marit zu Unfug verleiten ließ. Sehr zu Niklas` Vergnügen.

 

»Du brauchst gar nicht so die Nase zu rümpfen, Fräulein«, tadelte Niklas sie spielerisch und wedelte mit dem Zeigefinger vor ihrer Nase herum. Und in gekonnter Imitation des Chefs fuhr er fort: »Diese Bande führt die Polizei von Ljungby schon ein paar Wochen an besagter Nase herum. Jetzt können wir ihnen endlich zeigen, wie man sowas anpackt!«

 

Marit grinste. »Das hat er nicht wirklich gesagt.«

 

Niklas ließ erneut die Augenbrauen tanzen. »Nicht? Beweise es!«

 

»Besagte Nase?«, betonte Marit.

 

»Na gut«, gab Niklas schulterzuckend zu. »Dieser Teil war erfunden.«

 

Marit schnaubte und kippte den Rest Kaffee hinunter.

 

»Fertig?«, fragte Niklas. »Es ist zwar kein Fall mit Priorität und Medienwirksamkeit, à la Richter Hilding, aber immerhin kommen wir mal wieder raus. Ein bisschen Rumfahren, die Bestohlenen befragen und auf dem Rückweg Schokoküsse mitnehmen!«

 

»Der Diebstahl ist in Strömsnäsbruk?«, fragte Marit, denn dort lag die Schokokussfabrik. Niklas nickte und strahlte. Marit verdrehte erneut die Augen. Niemand liebte Schokoküsse so wie er. Er hatte sogar versucht, Pia dazu zu überreden, zu Marit und Roger nach Strömsnäsbruk zu ziehen, doch sie war in dem Städtchen Markaryd familiär verwurzelt. Und sie liebten im Grunde beide ihre kleine, gemütliche Wohnung in Markaryd.

 

»Also gut, du bekommst deine Schokoküsse. Kein Richter Hilding, aber immerhin etwas zu tun«, gab sie zu.

 

Richter Hilding war vor ein paar Wochen in Jönköping ermordet worden. Der Fall ging durch die Medien. Die Statue von Justitia war ihm tief in den Rachen gestopft worden. Er war qualvoll erstickt. Noch gab es keine Hinweise auf den Mörder, doch alle diskutierten die Möglichkeiten. Hilding war nicht gerade beliebt gewesen und die Liste seiner Feinde dementsprechend lang. Auch auf ihrem kleinen Revier in Markaryd wurden fleißig Mutmaßungen angestellt. Interessante Morde geschahen hier selten.

 

Marit schnappte sich ihre Jacke und peilte hinter Niklas die Tür an.

 

»Halt! Stopp!« Polizeichef Karl Sjöstrand kam schwer atmend aus seinem Zimmer gerannt. Marit und Niklas wechselten verwunderte Blicke. Sjöstrand rannte nie. Vermutlich, weil seine Körperfülle es nicht zuließ. Daher auch die extreme Kurzatmigkeit.

 

Schnaufend hielt er eine Hand hoch und pochte auf die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. »Wir haben einen Mord!«, keuchte er. Schlagartig wurde es still im Revier. Er blinzelte verblüfft. So unmittelbar und gänzlich hatte ihm noch nie jemand Gehör geschenkt. Er räusperte sich und holte Luft. »Ihr habt richtig gehört. In Strömsnäsbruk, oben am Wasserturm, wurde eine Leiche im Wald gefunden. Offenbar hat der Hund eines Ansässigen Alarm geschlagen. Der Typ heißt … Moment.« Sjöstrand hob die Hand und starrte auf einen Zettel, der in seiner dicken Faust reichlich zerknüllt worden war. »Jönsson. Bo Jönsson.« Sjöstrand blickte auf. »Marit, Niklas, das ist jetzt Ihr Fall. Sven und Britt, Sie übernehmen den Bootsmotor. Ach, und da war ein Wildunfall auf der Riksettan. Der Kerl ist abgehauen, aber eine Passantin hat das Nummernschild fotografiert. Fredrik, kümmere dich darum.«

 

»Ein Mord in Strömsnäsbruk?«, fragte Marit. »Weiß man schon wer?«

 

Hoffst du auf Roger?, fragte die Stimme in ihrem Kopf süffisant.

 

Marit ignorierte sie. Sie kannte viele in dem Ort, immerhin lebte sie bereits seit fünf Jahren dort und die Kinder gingen dort zur Schule.

 

»Wieder mal typisch«, knurrte Fredrik, der jüngste Kollege im Team. »An mir bleibt die Büroarbeit hängen.«

 

Marit und Niklas ließen sich die Details geben, dann machten sie sich auf den Weg zu ihrem ersten Mord.

 

 

 

»Wennerbergsgatan, ganz oben«, sagte Niklas, als Marit von der Hauptstraße Richtung Altenheim abbog.

 

»Ich weiß, wo der Wasserturm ist«, erwiderte sie und fuhr ohne zu zögern kreuz und quer die ineinander fließenden Straßen immer höher hinauf. Strömsnäsbruk lag direkt am Lagan und erstreckte sich ein Stück weit die dahinterliegende Anhöhe hinauf. Und der Wasserturm, ein hässliches weißes Bauwerk, lag am Ortsrand. Dahinter gab es im Grunde nur noch Wald und natürlich den alteingesessenen Torfabbau, wo eingewachsene, schmale Schienen an die alte Torfbahn erinnerten, die schon lange nicht mehr fuhr. Ein paar Meter hinter dem Wasserturm führte ein Waldweg zu den letzten beiden Häusern – idyllisch gelegen, mitten im Wald und dennoch so ortsnah, dass man über einen weiteren Waldweg nur wenige Minuten zu Fuß ins Zentrum gelangte. Marit lief oft dort entlang, auf ihrer täglichen Joggingtour.

 

Am Wasserturm wartete ein Mann mit seinem angeleinten Hund bereits ungeduldig.

 

»Wieso dauert das so lange?«, begrüßte er sie unwirsch. »Da liegt ein Toter! Die Kehle aufgeschlitzt!«

 

Und er wird auch in einer Stunde noch tot sein!, brauste die Stimme in Marits Kopf auf. Stutz ihn zurecht! Mach schon! Wozu bist du Polizistin?

 

Marit atmete tief durch und ignorierte die Unhöflichkeit des Mannes. Stattdessen ließ sie den Hund an ihrer Hand schnüffeln, der sie freudig begrüßte.

 

»Nun sind wir ja da«, brummte Niklas. »Zeigen Sie uns die Leiche. Haben Sie etwas angerührt?«

 

»Ich nicht, aber mein Hund«, meinte der Mann immer noch aufsässig und betrachtete missmutig, wie sein Jagdhund unter Marits Händen zum Schoßhund wurde.

 

»Ein wundervolles Tier«, sagte Marit und erhob sich, um letztendlich dem Besitzer in die Augen zu sehen. Die Stimme in ihrem Kopf schwieg zum Glück. »Bo Jönsson?«, fragte sie. Der Mann nickte und zeigte den Weg hinauf.

 

»Da hinten ist es«, knurrte er und schritt zügig los, als wollte er das ganze möglichst schnell hinter sich bringen. Er blieb abrupt stehen und zeigte in den Wald. »Ein paar hundert Meter da rein.«

 

Marit musterte ihn. Er war tatsächlich befangen. Seine Aggressivität war lediglich seine Art, mit dem Fund umzugehen. »Warten Sie bitte hier«, sagte sie freundlich. »Wir sehen uns das an, und dann können Sie uns genau erzählen, was Sie gesehen haben.«

 

Er nickte kurz und presste die Zähne zusammen. Marit warf Niklas einen Blick zu, dann stiegen beide über Gesteinsbrocken, Blaubeer- und Preiselbeersträucher und Geäst tiefer in den Wald.

 

Sie brauchten nicht lange zu suchen. Der Tote lag etwa 300 Meter vom Weg entfernt auf dem moosbedeckten Waldboden. Die Kehle war durchtrennt und Marit konnte erkennen, dass der Hund versucht hatte, den Mann zu wecken. Oder ihn zu fressen? Sie war sich nicht sicher. Scharrspuren waren direkt neben der Leiche zu sehen, und das Blut am Hals war eindeutig abgeleckt worden. Kein Wunder, dass dieser Jönsson so verstört wirkte. Marit spürte, wie ihr die Galle hochstieg. Der Kaffee lag ihr plötzlich extrem schwer im Magen.

 

Du hast schon Schlimmeres gesehen, stell dich nicht so an, meinte die Stimme.

 

Hatte sie? Das stimmte doch gar nicht, dachte Marit. Das hier war ihr erster echter Mord. Natürlich hatte sie bereits jede Menge Fotos von Tatorten gesehen, doch in der Realität war das noch etwas ganz anderes. Trotzdem half der Einwurf, Marit atmete tief durch und betrachtete den Tatort mit der nötigen Distanz.

 

»Männlich, etwa fünfundzwanzig Jahre, vermutlich Schwede«, murmelte sie und sah sich um. »Und ganz klar ermordet.«

 

»Hier sind ein paar Fußabdrücke«, bemerkte Niklas. »Aber der Hund hat den Tatort ganz gut verwüstet.«

 

Marit nickte. »Mal sehen, ob der Mann einen Ausweis oder Ähnliches dabei hat.«

 

»Warte, ich mach erst ein paar Fotos.« Niklas holte die Kamera hervor und fotografierte den Toten von allen Seiten. Dann durchsuchte Marit seine Jackentasche. Sie zog eine Brieftasche aus einer der Innentaschen.

 

»Claes Mårtensson, zweiundzwanzig. Er wohnt hier in Strömsnäsbruk. Und zwar gleich in dem Haus dort um die Ecke.« Marit zeigte in den Wald hinein und runzelte die Stirn.

 

»Der Waldweg, den ich von der Straße aus gesehen habe?«, fragte Niklas. Marit nickte und zückte ihr Telefon. »Hallo … hm … Ja, es war Mord, dass Team der Spurensicherung soll herkommen«, informierte sie Sjöstrand. Dann wandte sie sich wieder Niklas zu. »Lass uns schauen, ob wir noch was finden, bevor die Spurensicherung kommt.« Beide suchten den Waldboden nach Hinweisen ab – irgendeine Spur, die etwas über die Tat und den Täter verraten konnte. Doch sie fanden rein gar nichts. Falls es Spuren gegeben hatte, so hatte der Hund effektiv dafür gesorgt, dass nichts mehr zu erkennen war.

 

»Also gut«, sagte Niklas. »Mal sehen, ob die Spurensicherung nachher mehr findet.«

 

 

 

Jönsson wartete ungeduldig am Straßenrand. »Kann ich jetzt endlich gehen?«

 

Niklas musterte ihn ruhig. »Sie sagten, Sie kennen den Mann nicht?«

 

Jönsson schüttelte den Kopf. »Nein, nie gesehen.«

 

»Tatsächlich? Gehen Sie hier oft mit dem Hund spazieren?«

 

»Ja, jeden Tag, wieso?«, fragte Jönsson misstrauisch.

 

»Nun ja, er wohnte hier um die Ecke.« Niklas zeigte auf den Waldweg und beobachtete den Mann dabei genau.

 

»Hier? Da hinten wohnt nur die alte Margaretha.«

 

Niklas sah Marit an. »Das ist richtig. Es gibt zwei Häuser. Das erste stand bis vor kurzem leer.«

 

»Da wohnt jetzt jemand?«, fragte Jönsson ruppig.

 

»Und das wollen Sie nicht bemerkt haben?«, fragte Niklas nun etwas härter zurück.

 

Marit blickte von Niklas zu Jönsson, der nun richtig borstig wurde.

 

»Was wollen Sie damit andeuten?!«

 

»Gar nichts«, warf Marit ein, bevor Niklas antworten konnte. »Mich wundert das genauso wie Sie. Als ich vor etwa einer Woche das letzte Mal dort entlanggelaufen bin, stand das Haus noch leer.«

 

Jönsson blickte Marit das erste Mal direkt an. Erleichterung war ihm anzumerken. »Sie wohnen auch hier?«, fragte er, dann schien so etwas wie Wiedererkennen in ihm aufzuflackern. »Sie sind die junge Frau, die spät abends immer bei uns vorbeiläuft!«

 

Marit lächelte. »Das ist richtig. Und nun erzählen Sie mal. Haben Sie wirklich nicht bemerkt, dass jemand eingezogen ist?«

 

Der Mann druckste ein wenig herum. »Also gut«, brummte er. »Vor ein paar Tagen habe ich etwas gehört und bin an die Tür. Ich dachte, der Besitzer ist da und ich wollte ihm sagen, dass er den Weg vernünftig von herabhängenden Zweigen freischneiden muss, das ist seine Pflicht!« Es blitzte wütend in Jönssons Augen auf. »Aber da war stattdessen dieser junge Kerl. Unfreundlich und herablassend. Er sagte, er hätte das Haus gemietet und warf mich vom Hof. Verfluchter Nichtsnutz! Solch Gesindel brauchen wir hier nicht!«

 

»Haben Sie ihm das gesagt?«, fragte Niklas trocken.

 

Jönsson giftete ihn an. Niklas seufzte. »Ich glaube, Sie kommen mal mit aufs Revier«, entschied er.

 

»Ich habe den Kerl nicht umgebracht!«, brauste Jönsson auf.

 

»Sie werden trotzdem mitkommen, für eine Zeugenaussage, alles andere klären wir in einem Gespräch dann auf dem Revier.«

 

»Ich habe nichts getan, und meine Frau wartet!«

 

Er war es nicht, sagte die Stimme. Großes Maul, kleiner Choleriker, aber für so etwas hat der keinen Mumm.

 

»Ich weiß«, sagte Marit.

 

»Was?« Niklas blickte Marit fragend an.

 

»Ach, vergiss es.« Sie wandte sich an Jönsson. »Ich glaube nicht, dass Sie es waren. Trotzdem brauchen wir Ihre schriftliche Aussage. Also kommen Sie mit auf einen warmen Kaffee. Wir werden den Hund bei Ihrer Frau abliefern, dann weiß sie auch gleich Bescheid. Sie können im Auto warten, da ist es wärmer.« Jönsson wurde umgänglicher und stieg letztendlich freiwillig in den Polizeiwagen.

 

»Gut gemacht«, raunte Niklas Marit ins Ohr, als er die Tür hinter dem Mann schloss.

 

Sie brauchten nicht lange, auf das Team der Spurensicherung zu warten. Das Gebiet um die Leiche herum wurde abgesperrt, alles akribisch genau untersucht – Leiche und Umgebung –, doch die Spurensicherung schien nichts Neues zu ergeben. Niklas und Marit warteten nicht ab, bis der Tote abtransportiert wurde, um vom Rechtsmediziner obduziert zu werden. Sie fuhren mit Jönsson auf die Wache.

 

 

 

Das Verhör ergab, dass Jönsson und Mårtensson recht unschöne Worte gewechselt hatten. Im Grunde ein Streit um nichts, entstanden, weil beide Männer offenbar leicht aggressiv wurden. Falls Jönsson die Wahrheit sprach.

 

»Und das Motiv wäre Zorn?«, fragte Marit skeptisch, während Jönsson sich zum Aufbruch bereit machte.

 

»Das ist doch möglich, oder?«, fragte Niklas zurück.

 

»Jönssons Streit um die Instandhaltung des Weges war mit dem Besitzer und nicht mit dem Mieter, der gerade einmal ein paar Tage dort wohnte. Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Marit. »Dann hätte er den Besitzer schon lange um die Ecke gebracht. Dieser Hund bellt nur, der beißt nicht.«

 

Niklas zuckte mit den Schultern. »Wir werden sehen. Wenn wir die Mordwaffe bei ihm finden, ist der Fall gelöst.«

 

Ein Anruf beim Einwohnermeldeamt hatte ergeben, dass Claes Mårtensson vor fünf Tagen eingezogen war. Der Besitzer des Hauses bestätigte den Mietvertrag. Er wurde für eine Aussage auf das Revier bestellt.

 

»Während wir auf den Durchsuchungsbescheid warten, sollten wir noch mit ein paar Leuten sprechen«, meinte Marit. »Margaretha, die Nachbarin. Vielleicht hat sie etwas gesehen oder gehört. Und wir sollten im Ort fragen, mit wem Mårtensson Kontakt hatte. So kann Jönsson gleich wieder mit uns zurückfahren.«

 

»Du magst den Kauz, was?«, fragte Niklas kopfschüttelnd. »Er ist aggressiv, cholerisch und streitsüchtig. Was genau macht ihn dir sympathisch?«

 

Marit grinste. »Wenn du es so ausdrückst … Also gut, er ist nicht gerade liebenswert. Aber er mag Hunde und ich halte ihn für unschuldig. Er hat eine Leiche mit aufgeschlitzter Kehle gefunden, und er hat Angst, dass wir ihn verdächtigen, weil er Streit mit dem Opfer hatte. Jeder reagiert da anders. Außerdem, wenn er der Täter ist, weshalb geht er dann am nächsten Tag mit seinem Hund am Tatort vorbei und lässt ihn auch noch frei herumlaufen? Das ist unlogisch.«

 

»Wenn er die Leiche findet, lenkt es von ihm ab?«, schlug Niklas vor. Marit sah ihn an. Ihr Blick sagte eindeutig. Ernsthaft?

 

»Also gut«, seufzte Niklas. »Du hast vermutlich recht, das ist unlogisch. Es sei denn, jemand hätte ihn mit dem Opfer streiten sehen, doch dann hätte er wohl kaum geleugnet, den Mann zu kennen, sondern hätte gehofft, sein Fund würde ihn von den Verdächtigen ausschließen. Doch die Menschen tun die seltsamsten Sachen, wenn sie ein Verbrechen begangen haben«, meinte Niklas schulterzuckend. »Wer weiß, was in seinem Kopf vor sich geht.«

 

»Schon richtig«, gab Marit zu. »Trotzdem, das ist mir zu weit hergeholt. Das Motiv ist nicht stark genug. Und er hat ein Alibi.«

 

»Seine Frau«, wandte Niklas ein. »Sie kann auch für ihn lügen. Diese Aussage können wir gleich überprüfen, wenn wir ihn zu Hause absetzen. Mal sehen, was sie zu sagen hat.«