Leseprobe zu "Lovisa - Im Zeichen des Feuers"

Das Vermächtnis der Lil`Lu -2-

Prolog

 

Sie versammelten sich vor vielen Tausend Jahren. Vier Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, standen sich in einem magischen Zirkel gegenüber – eine Hexe, ein Mensch und eine Nephilim – Erde, Wasser und Luft. Braun, blau und gelb. Und eine Lil`Lu in einem roten Gewand. Sie repräsentierte die Schöpfungskraft. Die Kraft derjenigen, die man einst Engel taufte – das Feuer.

 

Vier Elemente, um das Unheil aufzuhalten. Vier Frauen für ein Ziel – die Rettung der Schöpfungskraft. Die Rettung der Engel!

 

In der Mitte des magischen Zirkels lag ein ledergebundenes Buch auf einem podestähnlichen Stein. Ein silbernes Leuchten drang aus seinem Inneren, während die vier Frauen die Kräfte der Universen anriefen.

 

Ein Windzug fuhr durch die mit Fackeln erleuchtete Grotte, strich um die Beine der Frauen, blähte ihre Gewänder, ließ ihre Haare verwehen und zentrierte sich dann über dem silber leuchtenden Buch. Es fing an zu glühen, schien Feuer zu fangen, Flammen schlugen empor. Der Wind nahm an Stärke zu, ließ die Flammen emporzündeln und erfasste den Einband des Buches wie mit unsichtbaren Fingern. Das Buch öffnete sich schlagartig. Ein Lichtblitz entlud sich, dann blätterten die Seiten rasend schnell bis zu einer Seite vor, so, als hätte der Wind ein Bewusstsein. Der Sturm beruhigte sich wieder. Die Flammen zogen sich zurück und hinterließen lediglich ein schimmerndes Glühen.

 

Die Lil`Lu in ihrem roten Gewand begann nun ihrerseits, silbern zu leuchten. Mit hoch erhobenem Haupt und vorgestreckten Armen fing sie zu sprechen an, während die drei übrigen Frauen – eine nach der anderen – in die Mitte des Zirkels traten.

 

 

 

In der Schöpfung Kraft vereint,

 

das Feuer durch mich spricht.

 

Im Zeichen der Erde geboren,

 

schenke uns das Licht.

 

 

 

Die braun gewandete Hexe ließ sich vor dem Buch auf die Knie nieder, legte ihre Hand auf die leere Seite und brannte ihr Zeichen hinein – ein Pentagramm.

 

Die Lil`Lu wiederholte:

 

 

 

In der Schöpfung Kraft vereint,

 

das Feuer durch mich spricht.

 

Im Zeichen des Wassers geboren,

 

schenke uns das Licht.

 

 

 

Die Menschenfrau in ihrem blauen Gewand kniete sich hin. Flammen züngelten aus dem Buch empor, ein Windstoß blätterte mehrere beschriebene Seiten vorwärts. Ein neues leeres Blatt erschien. Die Frau legte ihre Hand auf die Seite und brannte ihr Zeichen hinein – einen Kelch.

 

Die Lil`Lu sprach ihre Worte ein drittes Mal – rief das Element Luft an.

 

Die Nephilim in ihrem gelben Gewand nahm den Platz vor dem Buch ein. Sie wartete, bis der Windstoß ihr eine leere Seite zuwies und die Flammen sich beruhigten. Ihr Zeichen war ein Dolch. Er brannte sich unter ihrer Handfläche in das Papier.

 

Die drei Frauen und die Lil`Lu schlossen erneut den Kreis um das Buch. Sie fassten sich an den Händen und sprachen gemeinsam:

 

 

 

Eine Hochzeit der Elemente,

 

Erde, Wasser und Luft,

 

gebrandmarkt durch unsere Hände,

 

ein neues Zeitalter ruft.

 

 

 

Das Schicksal führt sie in Welten,

 

von Hoffnungsträgern bewohnt.

 

Die Liebe wird ihnen helfen,

 

Mut und Vertrauen, das wird belohnt.

 

 

 

Um Leben werden sie kämpfen,

 

um das Licht der Schöpfung gar.

 

Hoffnung werden sie schenken,

 

der, die uns einst gebar.

 

 

 

Den Kreislauf zu unterbrechen,

 

das ist eure Pflicht.

 

Die Existenz des Feuers zu retten,

 

davor fürchtet euch nicht.

 

 

 

Geht gemeinsam, Hand in Hand,

 

durch die Flammen, durch die Glut.

 

Eure Liebe in Liliths Land,

 

wird sie bannen durch das Blut.

 

 

 

Der leichte Wind veränderte sich, wuchs in Sekundenschnelle zum Sturm. Er zerrte heftig an den Seiten des Buches, blätterte sie vorwärts und rückwärts, bis eine herausriss! Und noch eine …

 

Das erste Blatt schwebte nach oben, dicht gefolgt von einer zweiten und dritten Seite. Sie wirbelten umeinander, berührten sich, als ob sie ein letztes Mal ihre Nähe spüren wollten, dann wurden sie erfasst und in drei entgegengesetzte Himmelsrichtungen geschleudert. Drei grelle Lichtblitze blendeten die Frauen, und die Blätter verschwanden im Nichts. Das Buch klappte mit einem Knall zu.

 

Schlagartig erlosch das Feuer, kein Lüftchen regte sich mehr. Es war still in der Grotte, wie in den Weiten der Universen.

 

 

 

 

Kapitel 1

 

 

 

Ich stand auf einer Anhöhe und schaute in ein hell erleuchtetes Tal hinab, durch das sich ein Fluss schlängelte. Der Strom wurde von zahlreichen Scheinwerfern erleuchtet und schien in der Dunkelheit wie ein sich windendes Band zu glühen. Am Flussufer sah ich ein Schloss. Die vielen Türmchen und Erker warfen ihre Schatten auf die umgebende Graslandschaft. Nur wenige Bäume zierten den Schlosshof, die ich nur schemenhaft gegen das Licht erkennen konnte.

 

Ich erkannte es wieder – es war genau das Schloss, das ich in einer Vision gesehen hatte.

 

Der Anblick auf das Tal hinab war wundervoll – fast märchenhaft. Dieser Ort strahlte Ruhe aus und Gastfreundlichkeit.

 

Ich hatte so ein mulmiges Gefühl, als ich widerwillig den Hügel hinabging. Seltsam! Mit jedem Schritt fühlte ich, dass hier etwas nicht stimmte …

 

Erik.

 

Denk an Erik. Und alles wird gut, hatte Ulrika gesagt. Ulrika, meine leibliche Mutter, die für mich in den Tod gesprungen war. Ich sollte an Erik denken, um ihn zu finden.

 

Es war so unglaublich viel geschehen in der letzten Woche. Ich hatte Erik kennengelernt, einen Dimensionsagenten aus einem anderen Universum, der den Auftrag gehabt hatte, Ulrika zurückzuholen. Seine Welt – Ulrikas Welt stand auf dem Spiel, hatte er mir erzählt. Ulrikas Wechsel in unsere Welt hätte einen Riss in sein Universum gerissen, der ständig wuchs und bald seine Welt vernichten sollte. Was bisher niemand wusste, war, dass diese Risse lebten. Es waren Lebensformen, die lediglich um ihr Überleben kämpften. Auch mir fiel es schwer, das zu verstehen.

 

Aber meine Mutter Ulrika hatte mir genau das gesagt. Nun gut, eigentlich hatte sie es nicht wirklich ausgesprochen. Zu ihren Lebzeiten hatte sie es mir unzusammenhängend zugeschrien, sodass ich nicht verstanden hatte, was sie eigentlich wollte.

 

Ulrika litt unter einer schweren Psychose, seit sie Zeuge davon wurde, wie ihr Geliebter – mein leiblicher Vater – auf bestialische Weise ermordet worden war. Damals – mit mir schwanger – war sie durch den Wechsel in meine Welt geflohen. Ulrika hatte aber die Geschehnisse und den Wechsel niemals richtig verarbeitet. Sie litt seitdem unter Verfolgungswahn und Visionen.

 

Ich hatte Erik gesehen, bevor er das erste Mal aufgetaucht war. Wir, Ulrika und ich, konnten Ereignisse aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart und sogar aus der Zukunft sehen. Ein großer Schock für mich, die ich mit Vorliebe meine „Tagträume“ als Geschichten aufschrieb – zumeist im Genre Horror und Thriller.

 

»Sie sind wahr! Sie sind alle wahr!«, hatte Ulrika geschrien.

 

Jetzt wusste ich, was sie damit gemeint hatte: Unsere „Tagträume“ waren ernst zu nehmende Visionen, und sie entsprachen der Realität.

 

Ulrika wollte nicht zurück in ihre Welt. Sie konnte nicht. Weshalb, das erfuhr ich erst nach ihrem Tod, als sie – haltet euch fest! – anfing, mit mir zu sprechen … In meinem Kopf …

 

Ja, ich weiß, das klingt irre. Aber ich schwöre, genau das tat sie, seit sie mir, kurz vor ihrem Sprung in die Tiefe, all ihre Gedanken überlassen hatte. Obwohl auch das verrückt klingt, hat Ulrika mir eine Bibliothek voll mit losen, unsortierten Buchseiten vermacht – bildlich gesprochen. All ihr Wissen und ihre Erlebnisse schwirrten nun in meinem Kopf herum, leider konnte ich nicht nach Belieben darauf zugreifen. Stattdessen überkamen mich Bilder, Gerüche oder ganze Szenen, die ich dann deuten musste. Und Ulrika fing an, mit mir zu sprechen – ich hörte sie wirklich. Vermutlich nutzte mein Unterbewusstsein den Inhalt ihrer Bibliothek, um mir auf diese Art Informationen zukommen zu lassen. Aber da war ich mir nicht sicher. Vielleicht lebte ja ein Teil von Ulrika tatsächlich in mir weiter. Eine seltsame Vorstellung, ebenso erbauend wie erschreckend.

 

Ob nun sie selbst oder ihr geistiger Abdruck: Durch eine Vision hatte ich erfahren, dass ich Eriks Welt retten konnte, obwohl – laut Eriks Erklärungen – Ulrikas Tod in meiner Welt das Ende seiner besiegelt hatte.

 

Ich wusste aber jetzt, ich konnte wechseln, ohne meine eigene Welt zu gefährden. Wenn ich wechseln würde, entstehe ein gefährliches Loch in unserem Universum – ein Riss, der nur durch meine Rückkehr geschlossen würde. So Eriks Version.

 

Doch jede Rückkehr in die eigene Welt verursachte den Tod einer Lebensform, denn – wir erinnern uns – die Risse lebten! Deshalb hatte Ulrika auch nicht zurückgewollt oder gekonnt. Sie sah diesen Riss als ihr Kind an, als ihren Sohn. Er sollte weiterleben. Für ihn hatte sie riskiert, dass Eriks Welt mit Millionen Menschen und Tieren über kurz oder lang explodieren würde …

 

Aber es gab eine Lösung: mich, Lovisa Eberholm, siebzehn Jahre alt, aus Ljungby. Echt abgefahren!

 

Ginge ich an ihrer Stelle, dann könnte ich die Katastrophe aufhalten. Genau das hatte sie in einer Vision gesehen. Genau das hatte ich durch sie in einer Vision gesehen. Wenn ich gehen würde, dann würden sich meine und ihre Lebensform zu etwas Neuem vereinigen, das nicht mehr wachsen kann.

 

Nein, nicht neu, erinnerte ich mich. Nicht etwas Neues, sondern etwas lange Vergessenes.

 

Was ist das?, hatte ich Ulrika gefragt.

 

Das wirst du für uns herausfinden, mein Engel, hatte sie geflüstert.

 

Ich hatte gesehen: Was auch immer es war, es schien nicht mehr zu wachsen, sondern in einem silberglänzenden Licht am Rande des Universums zu pulsieren.

 

Bist du sicher?, hatte ich wissen wollen.

 

Ganz sicher, mein Engel. Du kannst ihn retten. Ihn und seinesgleichen. Wer wechselt, kann nicht wieder zurückkehren! Du kannst sie alle retten, nicht nur die Menschen. Du und Erik. Ihr gehört zusammen. Geh und rette seine Welt. Rette meine Welt. Rette sie alle. Erfülle deine Bestimmung … Denk an Erik, wenn du wechselst. Und alles wird gut … Denk an Erik, vergiss das nicht … Und alles wird gut …

 

Erik … Magneten … Ich wurde von ihm angezogen, als wäre Magie im Spiel. Mehrfach hatte ich meinen verräterischen Körper verflucht, der auf eine unnatürliche Weise an Erik gebunden schien. Ja, ich liebte ihn. Aber diese wundersame Verbindung machte mir auch höllische Angst. Mal ehrlich, wenn eure Füße sich verselbstständigen würden, obwohl euer Gehirn sagt, Nein, bleib stehen!, dann wärt ihr auch beunruhigt, oder?

 

Aber was soll ich sagen? Ich war der Vision gefolgt. Ich sollte ein Universum retten und eine neue Lebensform. Ich tat das Richtige, das hoffte ich zumindest. Ich ließ alles zurück – meine Pflegeeltern, meine Freunde, meine Welt. Ich wechselte in ein anderes Universum – in Ulrikas Welt. Zusammen mit Paps – meinem Pflegevater – hatte ich auf einer Lichtung hinter unserem Haus in Småland gestanden. Ich hatte an Erik gedacht, genau, wie Ulrika es mir gesagt hatte.

 

Das gleißend helle Licht hatte mich umschlossen, genau wie in meiner Vision.

 

Ich sah wieder das Schloss vor mir. Von einem Hügel blickte ich darauf hinab …

 

 

 

Siedend heiß durchfuhr es meinen Körper. Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf das Schloss und den sich schlängelnden Fluss hinab. Ich hatte an das Schloss gedacht! An das Schloss! Nicht an Erik! Oh, verdammt, das konnte nicht gut sein …

 

Denk an Erik. Und alles wird gut, hatte Ulrika gesagt. Aber die Erinnerung an das Schloss hatte sich dazwischen gedrängelt. Ich hatte nicht an Erik gedacht, sondern an das Schloss!

 

Denk an Erik, vergiss das nicht …

 

So ein verfluchter … Ich will all die Schimpfwörter, die ich zischend ausstieß, hier nicht wiederholen, denn sie würden eine halbe Seite füllen.

 

Ich hatte an Erik denken sollen, nicht an das Schloss. Daher auch mein mulmiges Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er war nicht hier! Erik war nicht in diesem Schloss. Er konnte sonst wo sein!

 

Nur eines wusste ich mit Sicherheit: Ich ging in die verkehrte Richtung, denn je weiter ich den Hügel hinabgegangen war, desto stärker hatte ich es gespürt. Magneten. Wir waren wie Magneten, wir zogen einander an. Deshalb fiel es mir von Anfang an schwer, zum Schloss hinunterzulaufen. Ich entfernte mich von ihm in dem Augenblick, in dem ich in Richtung Schloss ging.

 

Nun gut, das war zumindest ein Hinweis. Meine Füße zogen mich in seine Richtung. Ich würde ihn finden können, ich bräuchte nur meinen Füßen zu folgen … grrr …

 

Wie hatte ich das nur vermasseln können? Ich war in einer wildfremden Welt – konnte nie wieder zurück –, und ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand.

 

Es hätte so leicht sein können: an Erik denken, dem Magnetengefühl folgen, Erik finden. Dann wäre alles gut gewesen. So viel zur Theorie!

 

Jetzt erfasste mich das sehr penetrante Gefühl, dass nicht alles gut werden würde. Gerade, als ich überlegte, sofort umzudrehen und meinen Füßen zu folgen (Wie weit war es bis zu ihm? Wovon sollte ich leben?), da wurde ich am Arm gepackt und unsanft herumgezerrt. Alles gut verschwand in einer sarkastischen Blase mit rosaroten Plüschumrissen. Ich fand mich Angesicht zu Angesicht mit einer grimmig dreinschauenden Palastwache wieder …

 

 

 

 

 

 

 

»Du hast uns gut gedient, Bruder Erik«, sagte der Großmeister des Ordens der Lil anerkennend. »Doch nun ist es an der Zeit, eine neue Aufgabe zu übernehmen. Deine Arbeit als Dimensionsagent hast du stets zu unserer Zufriedenheit erledigt. Ulrika zum Wechsel zu überreden, ging allerdings über deine Fähigkeiten hinaus.«

 

Er seufzte. »Du bist unser bester Mann. Ich gehe davon aus, dass du alles dir Menschenmögliche getan hast.«

 

Erik stand stocksteif vor seinem Meister und versuchte, ein Stöhnen zu unterdrücken. Ein heftiger Schmerz hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Nur durch einen Kraftakt der Disziplin schaffte Erik es, den Impuls zu unterdrücken, sich an die Brust zu fassen. Das Dolchtattoo brannte wie das heißeste Feuer, fraß sich mit jeder Sekunde tiefer in sein Fleisch – das Zeichen des Lil-Ordens, eine Warnung vor den Dämonen aus vergangenen Zeiten.

 

Lovisa.

 

Wie war es möglich? Erik verstand nicht, was mit ihm geschah. Das Zeichen der Lil auf seiner Brust hatte in Lovisas Welt immer dann gebrannt, wenn er ihr fern war. Doch wie konnte er weiter entfernt sein als in einem anderen Universum?

 

Er war gegangen, um seine Schwester Marit zu holen. Er war gegangen, in der Absicht, danach mit Marit zu Lovisa zurückzukehren, da seine Welt dem Untergang geweiht war. Er hatte seine Aufgabe, Ulrika zurückzubringen, nicht erfüllt. Der Wechsel hätte freiwillig geschehen müssen, doch Ulrika war in den Tod gesprungen und hatte damit das Schicksal seines Universums endgültig besiegelt.

 

Als Erik Lovisa durch den Wechsel in den Bergen Norwegens verlassen hatte, da war er auf den furchtbaren Schmerz gefasst gewesen. Er hatte erwartet, dass der Schmerz des brennenden Zeichens hier unerträglich sein würde. Doch zu seiner Überraschung hatte ihn nur ein zartes Ziehen an die einstigen Flammen erinnert.

 

Doch nun – ohne Vorwarnung – war der Dolch entzündet worden und fraß sich in sein Fleisch. Schweiß trat Erik auf die Stirn, während er die Zähne zusammenbiss und ausharrte. Der Großmeister sprach. Niemand hatte das Recht, ihn zu unterbrechen. Die Worte des Großmeisters waren wie Faustschläge in Eriks Gesicht: Ihr bester Mann, gut gedient, stets zu ihrer Zufriedenheit … Was für ein Hohn!

 

Als Erik unverrichteter Dinge zurückgekehrt war, hatten die Worte anders geklungen. Sein eigener Meister hatte ihn empfangen und ihn mit weniger netten Worten bedacht. Da Erik ein Wechsler war, wusste der Orden, Erik einzusperren, war keine Option. Ihr Druckmittel war seine Schwester Marit, die ebenfalls dem Orden diente.

 

Marit hatte bisher keinen Wechsel zustande gebracht, genau wie die meisten Menschen in dieser Welt. Nur wenige hatten diese Gabe. Für Ulrikas Heimkehr – und damit der Rettung dieser Welt – hatte sein Meister ihm Marits Freiheit versprochen.

 

Marit liebte den Grafen von Jotunheim, was ihr als Ordensschwester aber strengstens verboten war. Doch Erik hatte versagt. Als Strafe hatte sein Meister Marit in eine Zelle werfen lassen. Ihr Leid sollte Erik bestrafen. Ihre Gefangenschaft sollte ihn an einer Flucht hindern. Der Orden klammerte sich mit letzter Kraft an seine Macht, so, als ob ihre Welt weiter bestehen würde – trotz aller wissenschaftlicher Informationen über Risse und das Ende der Welt.

 

Erik verstand dieses Verhalten nicht. Wozu sollte das noch gut sein? Wozu noch Macht ausüben? Erik hatte doch – wie alle Menschen dieser Welt – nicht mehr viel Zeit und gar nichts zu verlieren.

 

Lediglich aus reinster Willenskraft ließ Erik sich nichts anmerken. Hoch erhobenen Hauptes und ohne mit der Wimper zu zucken, stand er vor dem Großmeister und nahm seine nächste Aufgabe entgegen. Seinen Plan, Marit zu befreien, musste er aufschieben. Heute konnte er froh sein, wenn der Dolch sich nicht quer durch sein Herz brannte, um ihn leichenblass und mit starren Augen vor des Großmeisters Füßen liegen zu lassen …

 

 

 

 

 

 

 

»Was treiben Sie hier? Das Betreten des Schlosshofes ist verboten!«, klärte die Wache mich unwirsch auf. Das hatte ich mir doch fast gedacht.

 

»Äh ...«, brachte ich hervor. Was nun?

 

»Mitkommen«, befahl der Mann, als ob ich eine Wahl gehabt hätte. Seine Finger umklammerten meinen Oberarm wie ein Schraubstock.

 

Die Wache trug eine Art Rittergewand, war gute zwei Köpfe größer als ich und mindestens dreimal so breit. Das war ein Riese! Chancenlos fügte ich mich in mein Schicksal. Aufgrund seiner Größe kam ich mir vor wie ein kleines Kind, das beim Schokoladestibitzen erwischt worden war. Der Vergleich hinkte ein wenig, denn mich erwartete sicher mehr als eine Rüge und ein tadelnd erhobener Zeigefinger. Auf alles gefasst, biss ich die Zähne zusammen und ließ mich ohne nennenswerte Gegenwehr auf das Märchenschloss zuführen, in dem bestimmt die böse Hexe wohnte.

 

Anstatt mir Gedanken über eine Flucht zu machen, registrierte mein etwas andersartiges Gehirn jedes bedeutungslose Detail: Die Wache roch nach gebratenen Würstchen, der Himmel am Horizont flimmerte durch die vielen Scheinwerfer im Schlosshof in einem gespenstisch fahlen Licht, das Gras unter meinen Füßen machte bei jedem Schritt raschelnde Geräusche, der Fluss floss lautlos – nicht einmal ein Plätschern war zu hören –, und je näher wir an das Schloss kamen, desto stärker wurde der Würstchengeruch. Mein Magen knurrte. Die Wache gab ein schnaubendes Geräusch von sich, das durchaus zu einem Grinsen gehören konnte. Als ich zu dem Mann aufsah, schaute er allerdings wieder mürrisch drein und schob mich unsanft vorwärts.

 

»Wo bringen Sie mich denn hin?«, versuchte ich ein Gespräch.

 

»Zum Schloss«, brummte die Wache.

 

Ach nee, dachte ich. Das wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Und der Kerl hatte offenbar nicht vor, sich präziser auszudrücken. Ich seufzte und stapfte weiter. Und ich verfluchte mich dafür, Erik nicht genauer über seine Welt ausgefragt zu haben. Wir befanden uns zwar in Schweden – die Wache sprach schwedisch –, aber welche Gesellschaftsform herrschte hier? Wie wurden Eindringlinge bestraft? Welche Rechte hatte ich? Ich musste mir eingestehen, rein gar nichts über Eriks Schweden zu wissen. Das konnte ja heiter werden.

 

Während die Palastwache mich durch einen Dienstboteneingang schob, fragte ich mich, wie die Wachen an Silvias Königshof in einem vergleichbaren Fall wohl reagieren würden. Welche Strafe mochte einen Eindringling dort erwarten? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Das war eine Liga, in der ich nicht spielte. Ich war ein einfaches Mädchen vom Lande. Mit Visionen. Doch davon wusste ja außer Amanda zunächst niemand. Jetzt kannten auch Emilie und Paps meine sonderbare Gabe, Geschehnisse zu sehen. Doch alle drei waren unerreichbar weit weg, in einem anderen Universum, das ich nie wieder betreten durfte.

 

Gerade, als ich dachte, wie unbedeutend ich in dieser Welt war – niemand kannte mich, bis auf Erik –, da schob mich die Wache vor eine untersetzte, rundliche Frau in den Sechzigern und präsentierte mich als kleine Maid, die er auf dem Hügel erwischt hätte.

 

»Ich übergebe sie hiermit in deine Verantwortung«, knurrte die Wache und wollte sich schon zum Gehen abwenden.

 

»Moment noch!«

 

Die rundliche Frau starrte mich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Misstrauen an.

 

»Wo hast du sie gefunden?«, fragte sie, ohne den Blick von mir zu wenden.

 

»Das sagte ich doch. Auf dem Hügel. Ich dachte, ich hätte dort einen Lichtblitz gesehen, deshalb ging ich nachschauen. Da fand ich sie.«

 

Wieder wollte er sich abwenden, wieder hielt die ältere Frau ihn zurück.

 

»Du bleibst hier! Zu niemandem ein Wort darüber, hast du verstanden?«, sagte sie in ziemlich scharfem Ton. Dann sah sie sich um, als ob sie sich vergewissern wollte, dass wir auch wirklich allein waren.

 

Wollen die mich gleich um die Ecke bringen?

 

Der Mann – er war mindestens drei Köpfe größer als die Frau – hob nur die Augenbrauen und setzte sich dann schulterzuckend an den groben Holztisch, der mitten im Raum stand. Er begrub den Stuhl förmlich unter seiner Körperfülle.

 

Die Frau wandte sich nun mir zu und strich sich nachdenklich über die Schürze, die sie über einem für mich mittelalterlich aussehenden Kleid trug. Ich beäugte sie misstrauisch.

 

»Wie heißt du?«, fragte sie geradeheraus. Sehr forsch.

 

»Lovisa«, murmelte ich verunsichert.

 

Die Frau nickte wissend, so, als ob sie diese Antwort erwartet hätte. Was um Himmels willen ging hier vor sich?

 

»Komm mit!«, befahl sie und ging einfach los. Genauso sicher, wie sie sich offensichtlich war, dass ich ihr widerspruchslos folgen würde, genauso sicher setzten sich meine Füße in Bewegung. Diese Frau war es gewohnt, zu befehlen und Gehorsam zu erhalten. Das stand ihr förmlich auf die Stirn geschrieben. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie eine Art Oberhaushälterin war. Vermutlich schmiss sie den gesamten Laden bereits seit Urzeiten.

 

Sie führte mich durch mehrere Räumlichkeiten der Bediensteten, bevor wir eine enorme Halle betraten, die genauso aussah, wie sich jeder den Empfangsbereich in einem Schloss vorstellte: riesig, mit einer breiten, nach oben hin schmaler werdenden Treppe und einem kunstvoll verzierten Geländer, einer verschwenderisch hohen Decke mit eingelassenen Fresken, römischen Fenstern mit langen, schweren Vorhängen aus rotem Samt und Gold, wohin das Auge blickte.

 

Mein Auge blickte gerade auf ein Portrait mit einem mächtigen goldenen Rahmen, aus dem ein junges Mädchen auf mich herablächelte: ich! Mit offenem Mund starrte ich mir selbst entgegen, doch dann sah ich die feinen Unterschiede. Die Frau hatte braune Augen, hohen Wangenknochen, einen kleinen Busenansatz und lange, leicht gewellte, dunkelblonde Haare. Sie war schlank, fast dünn. Ich dagegen hatte braunes Haar und eine mehr frauliche Figur. Wenn man meinen Busen derart in ein Korsett quetschen würde, wäre üppiger Busenansatz noch gelinde ausgedrückt. Ich war nicht dick, aber ich war mehr der busige, hüftige Typ. Abgesehen von diesen paar Kleinigkeiten, war das Porträt mir wie aus dem Gesicht geschnitten.

 

Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass es Ulrika in jungen Jahren darstellte, meine leibliche Mutter.

 

Siedend heiß fielen mir Eriks Worte wieder ein: »Ulrikas Titel ist Kronprinzessin Ulrika Lovisa Hedwig von Schweden. Was dich natürlich zu Prinzessin Lovisa Ulrika Hedwig von Schweden macht.«

 

Ich starrte das Porträt genauso ungläubig an, wie ich Erik angestarrt hatte. Er hatte die Wahrheit gesagt. Obwohl ich ihm letztendlich seine Geschichte abgenommen hatte, so wurde mir jetzt bewusst, dass ich diesen Teil wohl eher verdrängt hatte, als ihn tatsächlich für bare Münze zu nehmen. Prinzessin. Ich!

 

Ich schluckte und riss mich von Ulrikas Blick los, der mich durch die Halle zu verfolgen schien.

 

»Du bist ihr sehr ähnlich«, sagte die rundliche Frau mit gedämpfter Stimme. Sie musterte mich eingehend. Vermutlich hatte sie jede Kleinigkeit meiner Reaktion registriert. Sie nickte wieder, wissend, dann schritt sie die breite Treppe hinauf. Ich hastete ihr hinterher, darauf bedacht, Ulrikas Augen zu entkommen, die mir tief in die Seele zu blicken schienen.

 

Willkommen zu Hause, mein Engel, vernahm ich ihre Stimme in meinem Kopf. Sag meinem Vater, dass ich ihn liebe …

 

Ich zog scharf die Luft ein und schloss zu der Frau auf, die nun einem Gang folgte, der im Halbkreis über der Empfangshalle verlief, und ignorierte Ulrika erfolgreich. Das Geländer schimmerte golden, war mit Ornamenten, Symbolen und Wesen versehen, von denen einige wie Engel aussahen, nur dass ihre Flügel eher denen von Fledermäusen glichen.

 

»Warte hier!«, wies die Frau mich an.

 

Sie ließ mich einfach vor einer breiten Doppeltür stehen, hinter der ich gedämpfte Musik vernahm. Klavier. Ich liebte Klavier. Sie schloss die Tür vor meiner Nase. Ich überlegte kurz, ob ich den Moment nutzen sollte, um zu fliehen. Doch wohin? Bevor ich einen Entschluss fassen konnte, schlug die Tür wieder auf, und ein großer, hagerer Mann stand mir gegenüber. Seine Augen blitzten erzürnt über die Störung seines königlichen Alltags, doch dann fuhr der Funke des Wiedererkennens über sein furchiges Gesicht. Er starrte mich an, als wäre ich ein Geist. Vermutlich war es genau das, was er dachte.

 

»Sie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, nicht wahr?«, hörte ich eine sanfte Stimme. War das tatsächlich die Stimme der resoluten Haushälterin? Nun trat sie auch noch neben den Mann und legte ihm in einer vertraulich wirkenden Geste die Hand auf den Arm.

 

»Das ist nicht Ulrika, Gustav.«

 

Gustav schluckte und räusperte sich.

 

»Nein, natürlich nicht, Maria«, murmelte er. Dann schien er sich zu fassen. Er sah abwechselnd mich und Maria an.

 

»Sie heißt Lovisa. Und ich würde wetten, dass sie Ulrikas Tochter ist, deine Enkelin«, sagte Maria leise. »Ein Gentest wird es sicher zeigen. Olle hat sie auf dem Hügel gefunden, nachdem er dort einen Lichtblitz zu sehen glaubte.«

 

Der Mann namens Gustav schluckte erneut. Er starrte mich ähnlich ungläubig an wie ich ihn. Enkelin? Das war mein Opa? Ulrikas Vater … Der König …

 

»Kann es wirklich möglich sein?«, flüsterte Gustav und streckte die Hand nach mir aus.

 

Ich weiß, dass ich sonst immer recht mutig rüberkomme, doch das ging mir ein bisschen zu schnell. Ich trat einen Schritt rückwärts und stieß mit jemandem zusammen. Erschrocken wirbelte ich herum und konnte gerade noch verhindern, einen verschrumpelten Greis zu Boden zu befördern, indem ich mich zur Seite warf. Der Alte murmelte etwas vor sich hin, glättete seinen Pinguinfrack und erstarrte in der Bewegung.

 

»Ulrika, Ihr seid zurück?«, hauchte er, vollkommen aus der Bahn geworfen.

 

»Äh …«, sagte ich und sah hilfesuchend zu Maria. Sie eilte herbei und stützte den nun schwankenden Greis mit ihrer Körperfülle.

 

»Das ist nicht Ulrika«, sagte sie freundlich. »Das ist, wenn mich nicht alles täuscht, ihre Tochter Lovisa.«

 

Der alte Mann sah mich aus glasigen Augen an, dann versank er in einer Verbeugung.

 

»Willkommen auf Schloss Liljaholm, Prinzessin Lovisa«, sagte er unter Tränen.

 

»Ich … äh … Danke?«, brachte ich eher fragend als überzeugend hervor. Von einem Schloss Liljaholm in Schweden hatte ich noch nie etwas gehört. Aber das hier war ja auch ein anderes Schweden …

 

»Wir sollten nichts übereilen«, murmelte Gustav und strich sich mehrfach über sein faltiges Kinn. Dann schien er eine Entscheidung zu treffen. Er sah mich kopfschüttelnd an – immer noch eher an einen Geist glaubend.

 

»Veranlasse einen Gentest «, wies er den alten Mann an. »Wir müssen Gewissheit haben … Bis dahin müssen alle Stillschweigen bewahren. Nichts hiervon darf nach außen dringen! Maria? Olle, wo ist er?«

 

»Ich wies ihn an, auf mich zu warten und mit niemandem zu reden«, antwortete die Haushälterin zu Gustavs Zufriedenheit.

 

»Sie bekommt eines der Gästegemächer.« Er sah mich dabei an.

 

Alles ging so schnell, hier passierte so viel auf einmal, dass ich mich nicht aufraffen konnte, zu protestieren. Außerdem klang Gästegemächer nicht nach Kerker und Strafe, also hielt ich erst einmal den Mund.

 

»Stellt eine Wache vor ihrer Tür auf.«

 

Moment mal! Mein Kampfgeist erhob sich. Marias Hand legte sich auf meinen Arm, sie sah mich streng an. Dass sie meine Gefühle so schnell erraten hatte, nahm mir den Wind aus den Segeln. Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte Gustav seine Befehle erteilt und sah mich noch einmal kopfschüttelnd an, dann wurde die Tür zum zweiten Male vor meiner Nase geschlossen. Doch dieses Mal war ich nicht allein. Maria und der alte Mann, den sie mir nun als Gustavs persönlichen Kammerdiener vorstellte, standen mit mir auf dem Gang.

 

»Das lief doch ganz gut«, sagte Maria zufrieden.

 

Ich sah sie ungläubig an.

 

»Du musst ihm Zeit geben, Mädchen«, fuhr sie fort und tätschelte meinen Arm.

 

Der Greis schenkte mir ein faltiges Lächeln, verbeugte sich erneut vor mir und trat erst einen Schritt rückwärts, bevor er sich mit den Worten »Ich werde Eure Gästegemächer herrichten lassen« entfernte.

 

Ich starrte ihm perplex nach. Worte wie Ihr und Euch auf mich bezogen zu hören, war so ungewohnt, dass es mir eine Gänsehaut verpasste. Maria übernahm wieder die Initiative, schob mich vor sich her zur Treppe und verkündete: »Und jetzt werden wir dir etwas zu Essen besorgen!«

 

Mein Magen knurrte seine Zustimmung.

 

Einige Verhaltensregeln später – ich sollte mich in meinen Räumen aufhalten, mich nur mit dem mir zugewiesenen Personal unterhalten und beten, dass der Gentest mich als Prinzessin Lovisa auswies – saß ich vor einem dampfenden Teller mit Würstchen und Kartoffelbrei neben dem Riesen Olle, der mich nun doch neugierig musterte. Offenbar war ihm keine seltsame Ähnlichkeit mit einer vor siebzehn Jahren spurlos verschwundenen Kronprinzessin aufgefallen. Vielleicht war er noch nicht so lange in Gustavs Diensten. Und er sah auch nicht so aus, als hätte er die Empfangshalle jemals von innen gesehen. Maria erklärte ihm, dass ich nun Gast des Königs sei und dass dieser wünschte, meine Anwesenheit noch eine Weile geheim zu halten. Ich hatte das Gefühl, dass Olle für weitere Würstchen alles versprechen würde, denn er schnaubte nur zur Bestätigung und spießte mit der Gabel eine fette Bratwurst auf.

 

Ich hatte Tausend Fragen, doch Maria gab mir mit einem Blick auf den Riesen zu verstehen, dass diese warten mussten. Also aß ich mich schweigend satt, bot dem Wachmann meine letzte Wurst an, die er dankbar annahm – sich Freunde machen, stand ganz oben auf meiner To-Do-Liste in dieser neuen Welt –, und grübelte über meine Situation nach. Ich hätte es schlimmer treffen können. Ich wurde freundlich behandelt und sollte sogar ein eigenes Zimmer bekommen – wenn auch mit Wachen vor der Tür. Der Gentest machte mir wenig Sorgen, denn ich wusste, dass Ulrika meine Mutter war. Doch was dann? Was hatte König Opa Gustav mit mir vor? Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was auf mich zukommen würde. Zum Glück, sonst wäre mir mein Essen wohl nicht so gut bekommen …

 

 

 

Maria brachte mich hinauf zu meinem Zimmer. Ich war ehrlich gesagt froh, gleich allein zu sein. Ich hatte einiges zu überlegen, und müde war ich auch. Es war spät geworden, ein langer, ereignisreicher Tag lag hinter mir.

 

Als Maria die Tür öffnete und zur Seite trat, traf mich fast der Schlag: Das war kein Gästezimmer, das waren ganze Gemächer!

 

»Oh – mein – Gott!«, entfuhr es mir wenig elegant. Mit offenem Mund sah ich mich um.

 

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Maria stirnrunzelnd.

 

Der Greis kam aus einem der hinteren Räume angeschlichen. Sein hohes Alter ließ ein normales Tempo nicht mehr zu. »Ich hoffe, es ist alles zu Eurer Zufriedenheit, Prinzessin«, sagte er höflich und verbeugte sich abermals.

 

»Hier soll ich wohnen?«, brachte ich schließlich überwältigt hervor.

 

Maria schien plötzlich zu verstehen. Sie lächelte. »Fühl dich wie zu Hause, Mädchen. Wenn du was brauchst, dort ist die Klingel. Eine der Mägde wird sich dann kümmern.«

 

Ich sah die beiden sprachlos an. Dann räusperte ich mich.

 

»Vielen Dank … Für alles …«, war das Einzige, was mir einfiel.

 

Maria nickte nur. »Ruh dich aus. Gustav wird viele Fragen haben, sobald deine Identität feststeht. Morgen wird ein langer Tag.«

 

Noch einer, dachte ich, als sich die Tür endlich hinter den beiden schloss.

 

 

 

An Schlafen war noch nicht zu denken. Ich inspizierte erst einmal ausgiebig meine Gemächer und kam mir tatsächlich schon wie eine Prinzessin vor. Die Zimmer waren gemütlich eingerichtet, trotz des allgegenwärtigen Mittelalterstils, der nicht nur die Kleidung der Schlossbewohner prägte – außer dem pinguinähnlichen Frack des alten Mannes natürlich, der passte irgendwie nicht dazu.

 

Meine Suite hatte drei Zimmer mit Bad: eine Stube mit einem antiken Kamin, in dem ein gemütliches Feuer prasselte, ein Schlafzimmer mit einem Himmelbett und ein Ankleidezimmer, in dem Kleider in diversen Größen hingen – für den Fall, dass die Gäste einmal nicht genug Gepäck dabei hatten, vermutete ich. Auf dem frisch bezogenen Bett lag ein Nachthemd bereit – ich dankte dem alten Mann für seine Voraussicht.

 

Ich war ohne Gepäck gereist, was mir nun, wo ich darüber nachdachte, wirklich dämlich vorkam. Wo hatte ich nur meinen Verstand gelassen? Ich hatte nicht einmal einen Rucksack mit dem Nötigsten gepackt. Nein, ich war einfach Hals über Kopf abgereist, ohne Sinn und Verstand. Ich konnte von Glück sagen, hier gelandet zu sein, und nicht irgendwo in der Wildnis! Ich erinnerte mich, wie Erik gesagt hatte, dass es ganze Landstriche gäbe, auf denen keine Menschenseele wohnte. Andererseits: Hätte ich nicht an die Vision gedacht, sondern an Erik, dann wäre ich jetzt bei ihm und müsste mir keine Gedanken darüber machen, wie ich ihn finden sollte. Diese Prinzessinnen-Geschichte mochte ja jetzt von Vorteil sein, doch wie würde sich das auf meine Suche auswirken?

 

Ich ließ meine Klamotten im Bad achtlos auf den Boden fallen, drehte den Wasserhahn auf und prüfte vorsichtig die Temperatur. Wie mittelalterlich alles auch anmutete, warmes Wasser gab es jedenfalls. Und die Zimmer waren wohlig temperiert. Kein kühler Untergrund, den man in einem alten Gemäuer wie diesem hier erwarten würde. Der prasselnde Kamin war also nur Beiwerk, denn der alleine würde die Räumlichkeiten nicht annähernd heizen.

 

Ich dachte kurz an die Hütte am Geirangerfjord, in der in jedem Raum ein Holzofen gewesen war, um ihn warm zu bekommen. Dort hatten Erik, Ulrika und ich ein paar Tage gewohnt, bevor sie …

 

Schnell schob ich die unwillkommenen Gedanken beiseite und stieg unter die Dusche. Der Duschkopf war aus Gold, die Wanne aus Naturstein, aber trotzdem war es überraschend warm unter meinen Füßen. Die Kabinenwände schienen aus Glas zu sein, mit aufwändigen Malereien und Schnitzereien. Es gab auch eine Wanne aus Naturstein. Sie war riesig, mehr wie ein Becken für drei Personen. Was da an Wasser rein ging! Alles hier schien teuer, aber dennoch einfach. Ich bestaunte die mittelalterliche Einrichtung mit dem Flair von Reichtum und dachte, dass die unserer Welt technisch doch um einiges hinterherhinkten.

 

Bis ich den ersten Computer entdeckte.

 

Ich stand im Schlafgemach am Fenster und versuchte, die schweren Vorhänge vor die dunklen Löcher zu ziehen, die die hohen römischen Fenster bildeten. Das Glas eines der Butzenscheiben leuchtete plötzlich auf – ein Touchscreen. Wow! Nun war ich doch beeindruckt. Ein paar Klicks später verwandelte sich die Scheibenfläche in schneiende Flocken … Hm, Winterstimmung brauchte ich jetzt nicht gerade.

 

Ich klickte mich experimentierfreudig durch das Fensterscheibenprogramm: Sonnenstrahlen am Strand, ein Kaminfeuer, Wolken, Aquarienfische, galoppierende Pferde, oh! Eine ganze Unterwasserlandschaft. Das gefiel mir. Während Fische, Krebse und sogar ein Wal auf meinem Schlafzimmerfenster ihren Lebensaufgaben nachgingen, kuschelte ich mich im Bett in die zart nach Vanille riechenden Laken. Ich hatte mir einen Plan zurechtlegen wollen. Stattdessen fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Das einzig Seltsame, das ich kurz vorher noch vernahm, war Ulrika, die mir ein Gutenachtlied vorsang. Ich drängte sie energisch beiseite. Das hier war mein Kopf!

 

 

 

Eine mir wohlbekannte – am frühen Morgen aber äußerst nervige – Stimme weckte mich.

 

»Josefin, ich schlafe noch«, stöhnte ich, ohne die Augen zu öffnen. Josefin musste sich wirklich vorsehen. Irgendwer würde ihr auf dieser Klassenfahrt sicher den Hals umdrehen. Wenn sie sich nicht sofort verkrümelte, dann würde vermutlich ich diejenige sein. So liebenswert und lebensfroh Josefin auch war, morgens war sie einfach unerträglich. Ich hasste jeden, der vor neun Uhr schon Worte wie wundervoll, herrlich oder fantastisch in den Mund nahm, und Josefin schaffte es, diese auch noch trällernd rüberzubringen.

 

»Ihr kennt meinen Namen?«, hörte ich Josefin fragen.

 

Hä, warum spricht die so gestelzt? Würde ich sie nicht besser kennen, hätte ich fast angenommen, sie war sprachlos. Warum das denn?

 

»Natürlich«, seufzte ich und blinzelte in das plötzlich hell erleuchtete Zimmer. Ein Himmelbett, Vanilleduft, riesige römische Fenster mit schweren Vorhängen und ein Wal, der quer über die Fensterscheiben schwamm. Und … Josefin.

 

Mit einem Ruck fuhr ich in die Höhe.

 

»Josefin?!«, fragte ich verstört und starrte meine Schulfreundin oder das Mädchen, das wie sie aussah, ungläubig an. Sie trug ein Kleid, das mich an Mittelalterfeste erinnerte. Es war aus grünem Leinenstoff, lang, mit nach unten hin weiter werdenden Ärmeln. Darüber trug sie eine weiße Schürze. Das Mädchen knickste gerade vor meinem Bett.

 

»Ja, meine Herrin?«, fragte sie in Erwartung meiner Befehle.

 

Ich starrte sie weiter an und wäre fast in ein hysterisches Kichern ausgebrochen. Zum Glück war ich zu verblüfft dafür.

 

»Man schickt mich, Euch zu Diensten zu sein«, sagte Josefin und knickste erneut.

 

»Ich … äh …« Ich räusperte mich. »Du heißt tatsächlich Josefin?«, fragte ich misstrauisch. Dieses Mädchen war meiner Schulfreundin wie aus dem Gesicht geschnitten, sogar ihre Mimik und Gestik waren dieselben. Ich konnte es einfach nicht fassen. Wie war das möglich?

 

»Oh ja, meine Herrin. Wer hat es Euch verraten? Ich bin ab heute für Euch da. Euer Wunsch ist mir Befehl. Doch erst einmal solltet Ihr Euch waschen, damit ich Euch beim Ankleiden behilflich sein kann. Sobald ich Eure Größe kenne, werde ich Euch eine Garderobe zusammenstellen, auf die Ihr zurückgreifen könnt, solange Ihr hier zu Gast seid. Ihr habt einen wunderschönen Teint und solch frauliche Figur. Mir schweben da bereits herrliche Modelle vor, die Euch hervorragend kleiden und Eure schönen Augen zur Geltung bringen werden.«

 

Während Josefin weiterplapperte, ratterte es in meinem Hirn. Ein Gespräch mit Erik kam mir in Erinnerung.

 

Er hatte mir erklärt: »Es gibt unendlich viele Welten. Jede Entscheidung, die du triffst, trägt zu einer anderen Zeitlinie in einer anderen Welt bei. Einige der Entscheidungen können mehr als nur dich selbst betreffen, sie beeinflussen das gesamte Geschehen. Daraus resultiert eine völlig neue Zeitlinie. Es gibt Welten, auf denen du nichts wiedererkennen würdest, aber auch solche, auf denen nur geringe Abweichungen zu deiner Realität herrschen.«

 

Sagte er da, was ich gerade dachte?, war mir in meinen Kopf geschossen, und deshalb hatte ich nachgefragt: »Du meinst, mich gibt es in unendlich vielen anderen Realitäten? Gibt es mich auch auf deiner Welt?«

 

Und dann hatte ich von ihm erfahren: »Es gibt dich vermutlich in unvorstellbar vielen Universen, doch niemals zweimal. Der Wechsel ist nur in eine Welt möglich, in der du nicht schon bist. Weshalb das so ist? Da gibt es viele Theorien. Eine unwahrscheinlicher als die andere. Also, nein. Dich gibt es in meiner Welt nicht, denn du warst bereits ein lebendiger Teil von Ulrika, als sie hierher sprang.«

 

Ergo: Das war also eine andere Josefin! Eine Josefin, die mich natürlich gar nicht kannte und offenbar meine Dienerin war. Wow. Ich fühlte mich peinlich berührt, doch dann fragte ich vorsichtig: »Du musst also alles tun, was ich verlange?«

 

Josefin unterbrach ihren Monolog über Kleider, Schmuck und, weiß der Himmel, was noch und knickste erneut. »Ich stehe zu Eurer Verfügung, meine Herrin.«

 

»Super!«, freute ich mich. »Als Erstes weckst du mich nie wieder mitten in der Nacht! Vor neun Uhr bin ich nicht ansprechbar.« Ich nickte nachdrücklich, wälzte mich auf die andere Seite und zog mir die Decke über den Kopf. »Und nenne mich Isa, okay?«

 

Sie schluckte und errötete. Sie fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. Ich seufzte und klopfte mit der Hand auf meine Matratze.

 

»Setz dich!«

 

Sie bekam riesige Augen und setzte sich natürlich nicht.

 

»Bitte«, fügte ich hinzu und klopfte erneut. »Ich beiße nicht. Zumindest nicht, wenn du versprichst, mich nie wieder ohne Grund so früh zu wecken.«

 

»Es gibt aber einen Grund, meine Herrin«, ergriff Josefin den Strohhalm.

 

Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen. Tatsächlich? »Und der wäre?«, fragte ich etwas zu barsch.

 

»Ihr habt einen Termin beim Palastarzt.«

 

»Oh«, machte ich. Der Gentest. »Also gut«, gähnte ich und schwang meine Beine aus dem Vanillebett.

 

Josefin strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Fröhlichkeit kehrte genauso schnell zurück wie die ihrer Doppelgängerin.

 

»Ich werde Euch nicht vor neun Uhr wecken, wenn es nicht notwendig ist, meine Herrin«, versprach sie und ging mir so fröhlich voran, dass sie fast hüpfte.

 

»Und nenn mich Isa«, knurrte ich. »Ich meine es ernst!«

 

Ich blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Josefin hörte auf zu hüpfen.

 

»Wenn Ihr dies ausdrücklich wünscht, werde ich es tun, solange wir unter uns sind.«

 

Das war ein Anfang.

 

»Einverstanden«, gähnte ich und ging an einer sehr skeptischen Josefin vorbei ins Badezimmer. Wenn dieses Mädchen genauso gestrickt war wie das aus meiner Welt, dann hatte sie Freundinnenpotenzial. Denn, auch wenn meine Josefin mir morgens in der Schule mit ihrer Fröhlichkeit den letzten Nerv raubte, war sie dennoch ein richtiger Kumpel, auf den man sich stets verlassen konnte.

 

Während ich mich wusch und mich danach von Zofe Josefin in ein grünes, mittelalterlich angehauchtes Kleid für Adelige stecken ließ, kam mir der Gedanke, wer von meinen Freunden und Bekannten mir hier womöglich noch als Doppelgänger über den Weg laufen konnte. Ich entschied, dass es ein unglaublicher Zufall sein musste, dass ich Josefin hier traf.

 

Erik hatte erzählt, dass es nur ein paar Millionen Menschen auf dieser Erde gab. Wie groß war da die Wahrscheinlichkeit, dass gerade meine Bekannten als Doppelgänger hier vertreten waren? Auch wenn ich es nett gefunden hätte, hier auch Amanda und Emilie zu treffen, so wären sie ja eigentlich völlig andere Personen. Nur, weil sie gleich aussahen, waren sie noch lange nicht meine Freunde. Und irgendwie käme es mir sogar wie ein Verrat an den Originalen vor.

 

Mit Josefin würde das schon irgendwie klappen. Meine Josefin gehörte jedenfalls zu den unkompliziertesten Menschen, die ich kannte. Ich sah meine Freunde vor mir: Josefin – immer fröhlich –, Amanda – stets auf ihren Vorteil bedacht, aber trotzdem liebenswert – und Emilie – immer bemüht, es allen recht zu machen, eine Seele von Mensch, mit einem Herzen aus Gold. Emilie …

 

Die Vision erwischte mich eiskalt.

 

 

 

Emilie stieß einen unterdrückten Schrei aus und schlug sich die Hände vor den Mund. Sie kauerte verängstigt hinter ein paar spärlich belaubten Büschen und starrte mit weit aufgerissenen Augen durch die dünnen Zweige auf etwas, das sich meinem Blick entzog. Schritte stampften über Kies, es raschelte, dann eine strenge Stimme.

 

»Waffen weg und mit erhobenen Händen langsam herauskommen!«

 

Emilie zuckte zusammen, als wäre sie geschlagen worden, dann begann sie, wie Espenlaub zu zittern. Sie hob den Blick und sah mir direkt in die Augen.

 

Hilfe!

 

 

 

Ihre stumme Bitte traf mich wie ein Blitzschlag. Ich erwachte und starrte direkt in Josefins Augen, die mich zutiefst erschüttert ansahen. Oh, verdammt, mein Timing war wieder einmal erschreckend.

 

»Geht es Euch gut?«

 

Ich zitterte und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Emilie? Sie war in Gefahr? Wo? Und vor allem, wann? Meine Visionen waren da nicht sehr spezifisch. Um genau zu sein, wusste ich erst seit Kurzem, dass es tatsächlich echte Visionen waren und diese durchaus aus verschiedenen Zeiten stammen konnten. Sogar aus verschiedenen Welten. Aber Waffen?

 

Als ich Josefin nicht antwortete, lief sie zur Tür und zauberte dort eine Computerkonsole hervor.

 

»Ich rufe Hilfe«, murmelte sie. Zum Glück war sie da genau wie meine Josefin, sie redete immerzu und sprach meist auch ihre Gedankengänge laut aus, bevor sie handelte.

 

»Nein!«, schrie ich und war mit zwei Sätzen bei ihr. Ich schubste sie fast von der Konsole fort, so dringend war es mir, sie an ihrem Vorhaben zu hindern.

 

Josefin wich erschrocken vor mir zurück, ich versuchte, mich zu beruhigen. Wie mochte ich für sie aussehen? Das Bild von Ulrika kam mir in den Sinn, wie sie mit irrem Blick durch mich hindurchsah und panisch ihre Hände rieb. Ich atmete tief ein, sah Josefin direkt in die Augen und gab mir Mühe, so normal wie möglich zu klingen.

 

»Es geht mir gut. Wirklich«, fügte ich hinzu, denn ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. »Das ... hm … was eben passiert ist, möchte ich gern für mich behalten.«

 

Ich zögerte. Eigentlich hatte ich keine Ahnung, wie ich es Josefin begreiflich machen sollte, dass niemand davon erfahren durfte, ohne ihre Neugierde zu sehr zu wecken. Außerdem war ich nicht sicher, was genau sie sich aus meiner Reaktion zusammenreimte. Ich wusste ja nicht einmal, wie ich mich verhalten hatte. Hatte ich nur stocksteif dagestanden oder hatte ich etwas gesagt? Als ich die Vision vom bestialischen Mord an Gunnar in Amandas Flur gehabt hatte, da hatte ich laut Emilie geschrien wie am Spieß.

 

Emilie! Ihr stummer Hilferuf schickte mir eine grausige Gänsehaut über den Rücken. Ich wünschte mir sofort die nächste Vision herbei, obwohl ich weder das Josefin-Problem gelöst noch Einfluss auf meine Visionen hatte. Ich konnte sie nicht nach Belieben herbeiholen, sie kamen einfach über mich.

 

Josefin blickte mich äußerst skeptisch an.

 

»Ich muss alle … Besonderheiten melden«, sagte sie vorsichtig. »Aus welchem Grund sollte ich diesem Befehl nicht gehorchen?«

 

»Bitte.« Ich sah Josefin flehend an. »Ich bin nicht krank. Ich hatte eine Erinnerung. Etwas, das nur mich selbst etwas angeht«, versuchte ich es mit der Halbwahrheit.

 

Sie sah mich wachsam an. Ihr Blick huschte zur Konsole und zu mir zurück. Ich trat einen Schritt rückwärts. Wenn ich sie jetzt zwang, dann würde sie mein Verhalten bei erstbester Gelegenheit melden, davon war ich überzeugt.

 

So ist es gut. Folge deinem Instinkt, flüsterte Ulrikas Stimme in meinem Kopf. Mein Blick flackerte. Ich hoffte, Josefin hatte es nicht gesehen.

 

»Ihr habt das Zweite Gesicht«, hauchte Josefin auf einmal.

 

»Ich habe was?«, fragte ich verwundert.

 

Sie druckste herum. Rang mit sich selbst und ihrem Gehorsam dem König gegenüber.

 

»Ich kenne … diesen Blick«, sagte sie dann widerwillig. »Meine Großmutter hatte das Zweite Gesicht. Sie sah manchmal … Dinge, bevor sie geschahen.« Sie musterte mich eingehend.

 

Mir stockte der Atem. Ich war entlarvt!

 

»Sie hielt es auch geheim«, überraschte mich Josefin aufs Neue. »Sie sagte, falls ich jemals ihre Gabe verspüren sollte, dürfte ich niemandem davon erzählen. Niemals …«

 

Ich schluckte. Niemals.

 

Niemals!, flüsterte Ulrika in meinem Kopf.

 

Ja, ja, ich hab ja verstanden, dachte ich grimmig.

 

»Verratet mein Vertrauen nicht«, flüsterte Josefin. »Ich kann es mir nicht leisten, diese Stelle zu verlieren.«

 

Ich nickte, atmete erleichtert aus.

 

»Niemals«, sagte ich leise. »Und nenn mich bitte Isa.«

 

Ein Lächeln huschte über Josefins Gesicht.

 

»Das werde ich, … Isa.«

 

Ich merkte, dass es sie einige Überwindung kostete, mich beim Vornamen zu nennen. Doch sie hatte es getan, als ein Band, als einen gegenseitigen Vertrauensbeweis.

 

 

 

 

Kapitel 2

 

 

 

 

Der Palastarzt war ein gemütlicher Mann Mitte sechzig. Hier schien das Personal recht alt zu sein, bis auf einige junge Hüpfer wie Josefin, die alle als Hausmädchen dienten.

 

Der Arzt kam mir freundlich lächelnd entgegen, stellte sich als Lennart vor und nahm mir persönlich mit ruhiger Hand und jahrelanger Erfahrung Blut und Speichelprobe ab, obwohl eine blutjunge Schwester auf Abruf bereitstand. Sie seufzte fast über ihre Nutzlosigkeit. Für das simple Darreichen von Spritzen hielt sie sich sicher zurecht für überqualifiziert.

 

Ich mochte den untersetzten, fast kahlköpfigen Arzt sofort. Er strahlte eine Gelassenheit aus, die eindeutig abfärbte. Wer in seiner Gegenwart nervös wurde, war mit Sicherheit ein Hypochonder.

 

Lennart entließ mich nur eine Viertelstunde später mit den Worten: »In drei Stunden wissen wir mit Sicherheit, ob du Ulrikas Tochter bist. Das sollte schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht. Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten!« Dann tätschelte er mir väterlich die Wange und gab mich wieder in Josefins Obhut, die vor der Tür auf mich gewartet hatte.

 

»Ihr hättet mir sagen müssen, dass Ihr wahrscheinlich die Kronprinzessin seid«, sagte sie mit einem Anflug von Vorwurf in der Stimme. »Ich hätte Euch niemals Isa nennen dürfen!«

 

Ich grinste und stieß ihr freundschaftlich in die Seite.

 

»Zu spät!«, stellte ich zufrieden fest. Sie verzog das Gesicht und schmollte.

 

»Ich bin Isa, und du bist Josefin. Und dabei bleibt es«, entschied ich. Dann hallte das Wort Kronprinzessin in meinem Kopf nach. Ich blieb abrupt stehen.

 

»Kronprinzessin?«, fragte ich misstrauisch. »Wieso Kronprinzessin?«

 

Josefin sah mich an, als ob ich sie verschaukeln wollte. Doch offenbar machte ich ein genügend entsetztes Gesicht. Nun war es an ihr zu grinsen.

 

»Ihr seid die Nächste in der Thronfolge. Sollte König Gustav abdanken oder – Gott hab ihn selig – das Zeitliche segnen, seid Ihr Königin!«

 

Ich japste wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wie hatte mir dieses wichtige Detail entgehen können? Natürlich hatte Josefin recht. Ulrika war Kronprinzessin gewesen, was mich ihre Nachfolge antreten ließ, denn Erik hatte gesagt, der König habe keinen Erben und plane bereits eine Adoption. Ich war Kronprinzessin Lovisa Ulrika Hedwig von Schweden. Oh mein Gott!

 

»Oh nein!«, stieß ich hervor.

 

»Oh nein!«, wiederholte ich. »Prinzessin ist ja schon gruselig genug. Aber Königin? Ich?«

 

Josefin grinste noch breiter.

 

»Kronprinzessin Lovisa Ulrika Hedwig von Schweden, würdet Ihr mir bitte in Eure Gemächer folgen? Euer Frühstück dürfte dort bereitstehen.«

 

Ich schnaubte. Hedwig. Was war das überhaupt für ein furchtbarer Name? Wie die Eule von Harry Potter!

 

»Noch ist nichts bewiesen«, knurrte ich und wünschte zum ersten Mal, ich wüsste nicht bereits, wie das Ergebnis ausfallen würde. Dann hätte ich jetzt noch drei Stunden, in denen ich hoffen könnte, mich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Nur leider war gerade das eins der wenigen Dinge in dieser neuen Welt, derer ich mir ganz sicher war.

 

 

 

Das Frühstück stand tatsächlich schon bereit und glich eher einem Buffet für eine ganze Kompanie, als einer Portion für eine Prinzessin … Kronprinzessin. Zum Glück war ich eine gute Esserin. Ich gehörte nicht zu den Frauen, die sich dezent zurückhielten oder nur Salat zu sich nahmen.

 

»Ich werde Euch in Ruhe speisen lassen und ein paar neue Kleider besorgen«, sprach Josefin und knickste sich gen Tür.

 

Den Mund voll mit Brot nuschelte ich: »Und lass das Geknickse, wenn wir allein sind. Das macht mich ganz nervös.«

 

Ich stopfte mir gerade eine letzte Weintraube in den Mund, als Josefin einen großen Kleiderständer zur Tür hereinschob. Oben auf dem Ständer thronten bunte Schachteln und ein großer Kasten mit weinrotem Samt bezogen. Ich folgte ihr in den Ankleideraum und beobachtete, wie sie die dort hängenden Kleider in diversen Größen gegen eine Garderobe passend zu meinen fraulichen Rundungen austauschte. Aus den Schachteln zog sie zu jedem Kleid passende Tücher, Taschen und Schuhe. Der weinrote Kasten entpuppte sich als Schmuckschatulle. Mir gingen fast die Augen über, bei den edlen, mittelalterlich angehauchten Armreifen, Ringen und Halsketten, die mit Rubinen, Jade, Opalen und Saphiren besetzt waren. Ich war nicht gerade der Gold- und Silberfantast, doch solch Reichtum an Juwelen ließ dann sogar mein Herz höherschlagen. Leider schlug mich beim Bewundern noch etwas anderes – nämlich die nächste Vision.

 

 

 

Emilie und Amanda standen hinter einigen jungen Birken und beobachteten … mich! Ich stand mit meinem Vater auf der Lichtung hinter unserem Haus. Ich sah, wie er mich umarmte und sich dann einige Schritte entfernte. Paps leuchtete mich mit seiner Taschenlampe an. Ich schloss die Augen, und ein silbernes Leuchten erfasste mich, als ob das Licht aus meinem Innersten kommen würde. Emilie starrte völlig entgeistert zu mir hinüber. Ein schwaches Flimmern hatte meine Aura erfasst, es wurde immer stärker.

 

Amanda klammerte sich an Emilies Arm fest.

 

»Was zum Teufel …«, zischte sie und zitterte vor Aufregung. Oder aus Angst?

 

Und dann war ich weg. Wie vom Erdboden verschluckt, im Nichts aufgelöst. Paps‘ Lichtkegel fuhr über die Lichtung, so, als könnte er es nicht glauben, obwohl er es selbst gesehen hatte.

 

Und Emilie? Die Luft um sie herum begann, sanft zu flimmern, und im nächsten Augenblick war sie verschwunden – genau wie ich!

 

Amanda griff ins Leere, stürzte zu Boden und stieß einen Entsetzensschrei aus …

 

Oder war ich es?

 

 

 

Josefin schüttelte mich.

 

»Prinzessin? Herrin? … Isa!«, rief sie angsterfüllt.

 

Ich sah sie direkt an. »Habe ich geschrien?«

 

Josefin nickte. »Aber nur kurz«, beruhigte sie mich. »Niemand hat es gehört. Es war mehr ein leiser, erstickter Schrei. Mehr ein Ruf …«

 

Sie zögerte und blickte mich besorgt an. »Wie oft passiert es Euch?«

 

Ich schüttelte mich, versuchte die Vision in den Hintergrund zu drängen, um bei Josefin zu bleiben.

 

Ich darf Josefin nicht vertreiben. Ich brauche sie. Konzentriere dich!

 

Doch es fiel mir schwer, nicht über die Vision nachzudenken. Emilie und Amanda waren mir gefolgt? Emilie war im Nichts verschwunden? Wohin?

 

»In letzter Zeit immer öfter«, presste ich hervor.

 

Josefin nickte verstehend. »Ihr müsst lernen, es zu kontrollieren.«

 

Ich sah sie skeptisch an.

 

»Ihr müsst!«, beharrte sie. »Sonst bleibt Euer Geheimnis nicht allzu lange verborgen. Dafür brauche ich kein Zweites Gesicht!«

 

Sie hatte natürlich recht. Wenn das so weiterging, würde es bald das ganze Schloss wissen. Ich rieb mir die Augen und stöhnte.

 

Emilie. Wo war sie nur? In welches Universum war sie gewechselt? War sie überhaupt gewechselt, oder war da noch etwas ganz anderes am Werk? Aber irgendwie musste es mit mir zu tun haben …

 

Dann zog es mir den Boden unter den Füßen weg: Emilie war gewechselt, und sie hatte ein weiteres Loch in das Universum gerissen! Oh nein! Mein Wechsel hierher hatte noch irgendetwas anderes bewirkt. Vielleicht war etwas Energie von mir auf Emilie übergesprungen?

 

Wie auch immer es zusammenhing: Wäre es bei meinem Wechsel geblieben, wäre alles super – Ulrika hin, ich zurück. Emilies Wechsel hatte jedoch ein Loch in unserer Welt verursacht, das weiterwuchs. Meine Welt war damit dem Untergang geweiht! Paps, Mama, Amanda, alle, die ich liebte … Was hatte ich getan?

 

Hätte Josefin mich nicht gestützt, ich wäre vermutlich zu Boden gegangen.

 

Das Schwindelgefühl raubte mir fast die Luft zum Atmen. Alles drehte sich – Kleider, Schmuck, Schuhe – ein buntes Durcheinander, ein buntes Muster … Ein sich dehnender begehbarer Kleiderschrank …

 

Nein! Ich durfte nicht davongleiten! Mit letzter Kraft riss ich mich zusammen und kehrte zu Josefin zurück, die mich schnaufend vor Anstrengung auf dem Himmelbett ablud. Sie schluchzte auf, blickte mich angsterfüllt an.

 

»Ihr habt … geflimmert«, wisperte sie kaum hörbar. »Was ist hier nur los …?« Sie knetete, vollkommen überfordert, ihre Hände und sah mich hilfesuchend an. Mich, die ich für ihr Gefühlschaos verantwortlich war.

 

Du kannst ihr vertrauen, flüsterte Ulrika in meinem Kopf. Ich versuchte, meine Mutter mit aller Kraft zu verdrängen. Mein Kopf gehörte mir!

 

Vertraue ihr …

 

Wie sehr ich auch gegen ankämpfte, Ulrika war stärker.

 

Vertraue ihr!

 

Ich sah Josefin an. Ihr verzweifelter Blick traf mich mitten ins Herz.

 

»Ich glaube, ich bin dir eine Erklärung schuldig«, sagte ich dann leise. »Ich hoffe nur, dass ich das Richtige tue, wenn ich dich einweihe. Ulrika glaubt es jedenfalls.«

 

Josefin bekam große Augen.

 

»Kronprinzessin Ulrika? Ist sie Euer Zweites Gesicht?«, hauchte sie ehrfurchtsvoll.

 

»Wenn man so will, kann man es wohl so ausdrücken«, murmelte ich.

 

Und dann erzählte ich Josefin meine Geschichte. Sie war eine gute Zuhörerin. Sie unterbrach mich nur, wenn sie etwas nicht verstand. Ich erzählte ihr von Ulrika, der Psychiatrie, den Visionen, von Erik – allerdings ging ich, was meine Gefühle ihm gegenüber anging, nicht ins Detail – und von anderen Welten, die man durch einen Wechsel besuchen konnte. Ich berichtete, so gut ich konnte, von den Lichtwesen, den neuen Lebensformen, die starben, wenn man zurückwechselte, und ich erzählte von Emilie, die ich soeben hatte wechseln sehen.

 

»Ich bin hierhergekommen, um diese Welt zu retten. Doch dabei habe ich die meine dem sicheren Untergang ausgeliefert«, schloss ich. »Ich kann nicht zurück, denn dann töte ich das neue Lichtwesen. Und ich kann nicht hierbleiben, dann sterben Milliarden Menschen in meiner Welt …«

 

Ein Wesen gegen Milliarden … Jetzt wusste ich, wie Erik sich gefühlt hatte. Was sollte ich nur tun?

 

»Und jetzt bekomme ich auch noch ständig und überall Visionen!«, entfuhr es mir verzweifelt. »Wie soll ich es nur geheim halten?«

 

Josefin schwieg und kaute auf der Lippe herum. Ich musste unwillkürlich lächeln, trotz der ernsten Situation. Ich hatte Josefin noch niemals so nachdenklich gesehen – ich meine natürlich meine Josefin von meiner Erde. Doch sie waren sich so ähnlich.

 

»Ich bin sicher, Ihr habt etwas übersehen, Isa«, sagte sie dann langsam. »Das ergibt keinen Sinn. Wenn Ulrika sich sicher war, dass Eure Rückkehr das Problem lösen würde, dass auf diese Weise alle gerettet werden – denn das sagte sie, nicht wahr? – Dann müsst Ihr etwas übersehen haben!«

 

Ich sah sie verblüfft an. Ein interessanter Gedanke. Sie hatte mir tatsächlich genau zugehört. »Du glaubst mir das alles, ohne mit der Wimper zu zucken?«, fragte ich ungläubig.

 

Sie zuckte stattdessen mit den Schultern.

 

»Die Geschichte ist viel zu kompliziert, als dass sich das jemand einfach so ausdenkt«, meinte sie mit schlagender Logik.

 

Ich sackte schnaufend in mich zusammen, schnappte mir eines der gefühlt hundert Kissen auf dem Himmelbett und klemmte es mir unter den Bauch.

 

»Ist Euch immer noch schwindlig?«, fragte Josefin besorgt.

 

»Geht schon«, murmelte ich. »Konnte deine Großmutter das Zweite Gesicht kontrollieren?«

 

Josefin runzelte die Stirn. »Es überkam sie nur selten. Aber ja, sie konnte die Bilder aufhalten und verschieben. So erklärte sie es mir.« Sie sah mich zögernd an. »Ihr müsst sie als Teil von Euch annehmen.«

 

»Das tue ich doch«, meinte ich ehrlich. »Ich habe schon Visionen, so lange ich denken kann. Ich schrieb sie als Geschichten nieder und wartete oft voll Spannung auf die Fortsetzung.« Ich zog eine Grimasse. »Da wusste ich nur noch nicht, dass sie alle wahr sind …«

 

Ich dachte an all die Horrorgeschichten und Thriller, die ich verfasst hatte. Es grauste mich. Josefin schüttelte entschieden den Kopf.

 

»Nein, Isa, nicht die Visionen. Ihr müsst Ulrika annehmen. Sie ist es, die Eure Visionen lenken kann.«

 

Ich starrte Josefin entgeistert an. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, da war ich mir ganz sicher. Auch wenn Ulrika wahrscheinlich nicht tatsächlich in meinem Kopf war – zumindest nicht ihr Geist –, so war doch ihr gesamtes Wissen dort. Und ich hatte mich vehement gegen ihr Dasein gewehrt, seit sie mir im Kopf rumspukte. Ich hatte versucht, sie zum Schweigen zu bringen, anstatt sie ganz hinein und sie eins mit mir werden zu lassen.

 

»Du bist ein Genie!«, sagte ich nachdrücklich.

 

Josefin lächelte verlegen.

 

»Das ist es! Ich muss Ulrika voll und ganz als einen Teil von mir akzeptieren, dann …« Ich ließ die Worte in der Luft hängen. Etwas sträubte sich in mir.

 

»Auch ihre … verrückte Seite. Sie ist ein Teil von Euch, auch wenn Ihr an diese spezielle Seite Eurer Mutter nicht gern denken mögt …«, flüsterte Josefin zaghaft, als hätte sie Angst, ich würde sie für diese Worte bestrafen.

 

Verdammt! Josefin hatte schon wieder recht. Das war ganz genau der Grund, warum ich bisher versucht hatte, Ulrikas Stimme zu verdrängen. Das Ganze erinnerte mich einfach zu sehr an Ulrikas Wahnsinn.

 

»Sie hat gesagt, dass Ihr an diesen Erik denken sollt«, fuhr Josefin erleichtert fort, als ich ihr nicht den Kopf abriss. »Was hat sie damit gemeint, dass dann alles gut wird? Hättet ihr niemals hier beim Schloss auftauchen dürfen?«

 

Ich seufzte, denn genau diese Frage beschäftigte mich, seit Olle, der Riese, mich auf dem Hügel erwischt hatte.

 

»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht«, gestand ich. »Erik ist …« Ich zögerte.

 

Josefin lächelte, sie schien zu verstehen.

 

»Es gibt eine seltsame … Bindung zwischen Erik und mir. Es ist so, als ob …« Mir fehlten die richtigen Worte.

 

»So, als ob Ihr verliebt seid?«, schlug Josefin naseweis vor.

 

Ich knurrte. »Hm. Vielleicht«, murmelte ich gereizt.

 

»Ist das nicht etwas Gutes?«, fragte Josefin verwundert.

 

»Nicht, wenn dein Körper dir auf einmal nicht mehr gehorcht und deine Beine zu ihm gehen, obwohl dein Gehirn etwas anderes sagt!«, erwiderte ich etwas zu schroff.

 

»Ich verstehe nicht ganz«, meinte Josefin diplomatisch.

 

»Nein«, seufzte ich, »das tue ich ja selbst kaum. Irgendwie sind wir miteinander verbunden. Mehr, als normale Menschen es sein sollten. Ich meine …«, versuchte ich eine Erklärung, »… ich kenne ihn ja kaum. Eine Woche nur, und dieses merkwürdige Magnetengefühl bringt mich dazu, für ihn meine ganze Welt zu verlassen.«

 

»Ich dachte, Ihr wärt gewechselt, weil Ihr meine Welt retten wolltet?«

 

»Ja, doch nur, weil ich ihm vertraute! Und Ulrika natürlich.«

 

Ich fingerte am Saum des Kissens herum und dachte an ozeanblaue Augen und hinreißende Grübchen. Wie konnte man – frau – wegen so etwas schwach werden? Wie konnte ich wegen so etwas schwach werden?

 

»Fühlt Ihr seine Anziehungskraft auch jetzt?«, fragte Josefin in meine Selbstzweifel hinein.

 

»Nicht so stark wie direkt nach meinem Wechsel. Aber ja, ich spüre etwas. Es ist aber eher der Schmerz seiner Abwesenheit.« Uff, klang das kitschig. Ich wollte gerade klarstellen, wie ich das gemeint hatte, als Josefin mich zaghaft anlächelte.

 

»Das nennt man auch Trennungsschmerz und ist durchaus normal, wenn man verliebt ist.«

 

Als ich sie bissig ansah, wechselte sie rasch das Thema.

 

»Ihr müsst ihn finden. Wie ist sein ganzer Name, oder hatte er gar einen Titel?«

 

Das war ein weiteres Problem.

 

»Er hat sich mir nur als Erik vorgestellt«, gestand ich. »Er hat eine Schwester«, überlegte ich stirnrunzelnd. »Sie hieß …« Es fiel mir beim besten Willen nicht ein. Stattdessen sagte ich: »Er ist ein Dimensionsagent. Er hatte den Auftrag, Ulrika zurückzuholen. Gibt es eine Organisation, die solche Agenten ausbildet? Erik sprach davon, dass der kontrollierte Wechsel erlernt werden muss.«

 

Josefin schüttelte den Kopf.

 

»Nein, von solch einer Organisation habe ich noch nichts gehört.« Sie holte tief Luft. »Um ehrlich zu sein, wusste ich bisher nicht einmal, dass meine Welt in Gefahr schwebte. Sie haben uns einfaches Volk nicht eingeweiht. Vielleicht nicht einmal diejenigen, die damit umgehen könnten. Für mich gab es keine Gefahr, vor der ich Angst haben musste.«

 

Sie sah mich an und lächelte. »Doch nun, da ich weiß, was uns kurz bevorstand, kann ich nun sagen, dass ich überaus erfreut bin, Eure Bekanntschaft machen zu dürfen.«

 

Ich starrte sie erschrocken an. Erik und seine Leute hatten die Welt im seligen Ungewissen gelassen? Nun ja, wenn ich es mir recht überlegte, dann war das vielleicht besser so. Welches Chaos wäre sonst entstanden.

 

»Ich bin froh, dass Ihr gekommen seid, Isa«, flüsterte Josefin.

 

Das hätte ich gern meinerseits bestätigt. Doch Emilies Wechsel, den ich in der Vision gesehen hatte, schwebte wie ein unheilvoller Schatten über mir. Was sollte ich nur tun?

 

Ein Wesen gegen Milliarden … Doch da war noch etwas. Würde der Riss in dieser Welt erneut entstehen, wenn ich loszog, um Emilie zu suchen? Würde ich dann, anstatt alle zu retten, alle vernichten?

 

Bevor ich den Gedankengang vertiefen konnte, klopfte es an der Tür, und ich wurde zu einer königlichen Audienz gerufen. Das Ergebnis des Gentests war da. König Gustav wünschte meine Anwesenheit.

 

 

 

Zum zweiten Mal stand ich vor König Gustavs Gemächern. Dieses Mal in Begleitung zweier Wachen, die sich einfach links und rechts neben der Tür postierten und mir nicht weiter behilflich waren.

 

Wie verhält man sich bei Hof? Keine Ahnung. Eine kurze Einweisung in die von mir erwartete Etikette wäre von Vorteil gewesen. Stattdessen hatte ich mit Josefin Visionen diskutiert und an meine Welt gedacht. Wer konnte es mir verdenken? Opa Gustav womöglich …

 

Ich klopfte zögerlich.

 

»Komm herein!«, rief es von drinnen.

 

Ich atmete tief durch, öffnete die Tür und trat mutiger ein, als ich mich tatsächlich fühlte. Schein ist alles, sagte ich mir. Lass dir nur nichts anmerken.

 

König Gustav stand mit einem Glas dunklen Rum oder Whisky in der Hand am Kamin und blickte in die Flammen. In einem Ohrensessel saß der Palastarzt und nippte an seinem Glas. Er beobachtete mich wohlwollend, als ich näher trat.

 

»Ihr wünscht, mich zu sprechen?«, imitierte ich Josefins hochgestochene Anrede. Offenbar fiel das auf fruchtbaren Boden, denn Gustav wandte sich mir zu. Seine Augen glitzerten verdächtig. Hatte er geweint? Ich könnte es verstehen. Hier ging es um Ulrika, seine lang verschollene Tochter.

 

»Kommt näher, mein Kind«, sagte der Palastarzt freundlich.

 

Ich sah den König fragend an. Er nickte zustimmend.

 

»Der Gentest war eindeutig«, unterrichtete mich der Arzt, dem es offenbar leichter fiel, mit mir zu reden. Oder gehörte es sich so? Ließ der König immer für sich sprechen? »Ihr seid Ulrikas Tochter.«

 

Ich notierte, dass auch Lennart nun das Ihr mir gegenüber gebrauchte. Das war bei der Probenentnahme in seiner Palastpraxis noch nicht so gewesen.

 

»Ihr besitzt sogar die Schwingung dieses Universums, vermutlich, weil beide Elternteile von hier stammen.«

 

Etwas klickte in meinem Kopf. Die Schwingung dieses Universums? Aber ich hatte doch laut Erik die Schwingung meiner Welt. Das war der Grund, weshalb ich eigentlich nicht hätte wechseln dürfen.

 

»Wirklich?«, entfuhr es mir verblüfft.

 

»Oh ja, ganz sicher.« Lennart wedelte mit einem Scanner, wie ich ihn von Erik kannte, in der Luft herum. Dann ließ er ihn wieder in seine Tasche gleiten und nippte noch einmal an seinem Glas. »Wir können hier bei uns solche Dinge messen. Unsere Technik ist weiter fortgeschritten als die in der Welt, aus der Ihr kommt.«

 

Ich verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass ich das bereits wusste. Die Tatsache, dass ich die Schwingung dieser Welt haben sollte, ließ mich wachsam werden – noch wachsamer, als ich es ohnehin vorgehabt hatte.

 

Wer log nun? Lennart oder Erik? Aber weshalb hätte Erik lügen sollen? Er wollte doch seine Welt retten. Und hätte sein Gerät ihm angezeigt, dass ich tatsächlich die Schwingung seiner Welt habe, dann hätte er mich doch genauso dringend zurückholen müssen wie Ulrika. Ich beschloss, mich bedeckt zu halten und so wenig wie möglich von den Vorgängen auf meiner Welt preiszugeben.

 

»Geht es ihr gut?«, fragte König Gustav plötzlich. Seine Stimme klang belegt, aber ich meinte, auch einen harten Unterton herauszuhören. Ich sah ihm in die Augen. Sie waren wässrig blau, nicht braun wie meine und Ulrikas. Mein Blick fiel auf das Porträt einer älteren Dame in königlicher Tracht. Vermutlich Ulrikas Mutter, meine Großmutter. Wir sahen ihr beide sehr ähnlich. Mit König Gustav hatten wir so gut wie nichts gemeinsam.

 

»Sie ist tot«, sagte ich vorsichtig.

 

Sein Blick wurde steinhart.

 

Sag ihm, dass ich ihn liebe …

 

»Sie hat von Euch gesprochen«, versuchte ich, Ulrikas Bitte so normal wie möglich zu formulieren. »Falls ich Euch hier begegnen würde, sollte ich Euch … ihre Liebe überbringen.«

 

Mein Großvater schien auf etwas herumzukauen, das nicht da war. Seine Anspannung war fast greifbar. Er kippte sein Getränk in einem Zug hinunter und stellte das Glas auf dem Kaminsims ab.

 

»Sie hat sich aus dem Staub gemacht. Mit diesem Gunnar«, presste er hervor. »Sie hat sich meinem Willen und der Krone widersetzt, nur um ihrer egoistischen Liebelei nachzugehen. Sie hat eine ganze Welt dem bitteren Ende ausgeliefert, um mit diesem … diesem ...«

 

Offenbar fiel ihm kein passendes Wort ein. Mir war es egal. Ich starrte ihn ungläubig an. Er wusste es nicht! Er wusste nicht, dass Gunnar bestialisch ermordet worden war, wusste nicht, wie sehr Ulrika gelitten hatte, und er wusste natürlich auch nichts von der neuen Lebensform. Was sollte ich sagen? Wie viel durfte ich sagen?

 

»Und sie überbringt mir ihre Liebe?«, spuckte er letztendlich hervor.

 

Ich starrte ihn steif an. Wie konnte er nur? Der Palastarzt saß still da und betrachtete seinen König missbilligend. Doch er griff nicht ein.

 

»Dieses undankbare Kind! Sie hätte zumindest vor ihrem Tod zurückkommen sollen, um diese Welt hier zu retten!« König Gustav zitterte vor Anstrengung, beugte sich zu seinem Sessel vor und klammerte sich an der Lehne fest.

 

Lennart sprang nicht auf, sondern sagte mit ruhiger Gelassenheit: »Majestät, Ihr wisst, dass Ihr Euch nicht aufregen dürft.«

 

Dann wandte er sich mir zu. »Sagt mir, wie ist sie gestorben? Ist es lange her?« Teilnahmsvoll sah er mich an.

 

Ich starrte wutentbrannt auf meinem Opa König Gustav, dann zu Lennart hin.

 

»Sie ist für mich in den Tod gesprungen, etwas, was der da wohl niemals verstehen wird.«

 

Ich zeigte voll Verachtung auf Gustav, dem die Zornesröte ins Gesicht stieg.

 

»Den interessiert doch gar nicht, wie es Ulrika erging, also weshalb soll ich etwas über sie erzählen? Doch eines soll dieser arrogante Egoist erfahren!« Ich funkelte König Gustav zornig an. »Sie ist damals von hier geflohen, um mein Leben zu retten! Sie floh, weil mein Vater Gunnar bereits bestialisch ermordet worden war, und ihre Entführer – ja, sie ist entführt worden! – …«

 

Mittlerweile schrie ich so laut, dass sich meine Stimme überschlug.

 

»… Ulrikas Entführer wollten auch ihr Kind ermorden. Mich!« Ich tippte mir hart an die Brust.

 

Obwohl Lennart bereits leichenblass geworden war und mich anstarrte, als wäre ich die grausame Mörderin, brüllte ich, ohne Luft zu holen, weiter. Das musste jetzt raus!

 

»Ulrika hat Gunnars Leiche gesehen! Die Haut hing in Fetzen runter, der Körper war bis zur Unkenntlichkeit entstellt! Nur sein Gesicht war noch zu erkennen, damit sie auch ganz genau sah, dass es ihr Geliebter war – mein Vater!«

 

Ich war so wütend, so erschüttert, dass mir die Augen feucht wurden. Oh, wie ich diesen Mann hasste, den ich doch gar nicht kannte. Ich räusperte mich und senkte meine Stimme etwas.

 

»Und wenn du selbstgerechtes Stück Abschaum nur einen Funken Mitgefühl und wirkliches Interesse für deine Tochter aufbringen würdest, dann hättest du erst gefragt, weshalb sie niemals wiederkam, weshalb sie allem den Rücken kehrte! Dass sie dir ihre Liebe durch mich übermitteln lässt, ist mir völlig unverständlich!«

 

Ich war erst einmal fertig und schnaufte vor Anstrengung. Der Palastarzt war aufgestanden, streckte mir Halt suchend eine Hand entgegen.

 

»Ist das wahr?«, flüsterte er.

 

Dieser verfluchte König dagegen schien innerlich zu kochen. Er war bei jedem Wort von mir noch roter geworden, und nun explodierte er.

 

»Was fällt dir ein, so mit mir zu reden?«, brüllte er genauso laut wie ich zuvor. »Dieser Ton steht dir nicht zu! Eine bodenlose Frechheit! Aber ich werde dir noch Manieren beibringen! Du wirst mich nicht verlassen! Du wirst ihren Platz einnehmen und meine Pläne verwirklichen! Du wirst mir geben, was sie mir verwehrt hat!«

 

Ich schnaubte verächtlich.

 

»Glaub, was du nicht lassen kannst«, presste ich hervor, drehte mich auf dem Absatz um und marschierte zur Tür.

 

»Habt Ihr überhaupt gehört, was sie gesagt hat?«, hörte ich Lennart mit tonloser Stimme fragen und drehte mich noch mal um. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

 

»Lügen!«, brüllte Gustav. »Alles Lügen – und wer hat ihr erlaubt zu gehen?«

 

Ich rammte die Tür mit voller Kraft hinter mir ins Schloss und stand zwei bewaffneten Wachen gegenüber, die mich in die Zange nahmen.

 

»Wachen? Der König muss sofort in meine Praxis!«, rief der Arzt plötzlich mit erstaunlich fester Stimme.

 

Die Tür flog auf, ich sah König Gustav am Boden liegen. Er schnappte nach Luft, hielt sich das Herz und krümmte sich vor Schmerzen.

 

»Bringt ihn vorsichtig in meine Räume«, befahl Lennart den Wachen, die offenbar nicht wussten, wessen Befehl jetzt wichtiger war. Da war ja auch noch ich, die ich laut des Königs Gebrüll nicht einfach gehen durfte.

 

»Worauf wartet ihr?«, donnerte Lennart. Und an mich gewandt: »Geht in Eure Gemächer, mein Kind. Ich komme später zu Euch.« Mit einem Blick auf Gustav sagte er noch: »Der wird schon wieder. Es ist nicht das erste Mal, dass ihn sein Jähzorn in den Hintern beißt.«

 

Ich starrte Lennart sprachlos an. Ja, ich hatte mich nicht geirrt, ich mochte diesen Mann. Was ich von König Gustav, der mein Blutsverwandter sein sollte, ganz und gar nicht sagen konnte.

 

 

 

»Was fällt dem ungehobelten Holzkopf eigentlich ein?«, rief ich und tigerte zum x-ten Mal in meiner Stube auf und ab. Josefin hatte sich sprachlos angehört, wie mein erstes Treffen mit Opa gelaufen war.

 

»So was Egoistisches und Selbstgefälliges ist mir im Leben noch nicht untergekommen! Der hat sich mächtig geschnitten, wenn der glaubt, ich würde nach seiner Pfeife tanzen!«

 

»Er ist der König«, warf Josefin zitternd ein.

 

»Ja und?«, brüllte ich, dass die Wände wackelten.

 

Ich hatte wohl doch was mit Opa gemeinsam: mein aufbrausendes Temperament. Allerdings war ich zurecht empört, fand ich jedenfalls. Wie konnte er sich über die Etikette aufregen, wenn ich ihm gerade eröffnet hatte, dass seine Tochter die Hölle durchlebt hatte? Ich war so wütend, dass ich nicht wusste, wohin mit mir. Also tigerte ich weiter vor und zurück.

 

»Ich muss weg hier! Nur raus hier!«, rief ich und stürzte zur Tür, fest entschlossen, jeden umzunieten, der sich mir in den Weg stellen würde.

 

»Isa, bitte! Ihr könnt nicht einfach gehen. Man wird Euch einfangen und einsperren.«

 

»Ich bin doch längst eingesperrt!«, brüllte ich und zielte dabei auf die Wachen ab, die jetzt gerade mit König Gustavs Leben beschäftigt waren.

 

Ich musste die Chance nutzen. Ich musste Erik finden. So war es von vornherein beabsichtigt, nun musste ich es in die Tat umsetzen. Mit Josefin am Rockzipfel rauschte ich den Flur entlang, die Treppe hinunter auf den Küchentrakt zu, denn dort lag der einzige Ausgang, den ich kannte. Im Zimmer der Haushälterin Maria prallte ich mit dem hünenhaften Wachmann namens Olle zusammen, der mit seiner Körperfülle den Ausgang versperrte.

 

»Wohin so eilig?«, brummte er und hielt mich mühelos fest.

 

Ich tobte vor Wut. Maria kam herbeigeeilt. Händeringend erklärte Josefin, was passiert war, während ich um meine Freiheit kämpfte. Vergebens.

 

Resolut übernahm Maria das Kommando, ließ mich von der Wache zurück in meine Gemächer schleifen und platzierte zwei neue Wachen vor der Tür. Sie war auf einmal nicht mehr halb so freundlich wie tags zuvor, bedachte mich mit missbilligenden, fast wütenden Blicken und fragte mich allen Ernstes, was ich mir dabei gedacht hätte, die Gesundheit des Königs aufs Spiel zu setzen. Die nahm den Kerl doch tatsächlich in Schutz! Mir schwante, woher der Wind wehte. Ihre vertrauenswürdige Hand auf Opa Gustavs Arm fiel mir wieder ein. So eine falsche Schlange. Die war auf den Platz an seiner Seite scharf.

 

 

 

Man ließ mich alleine meine Wut austoben. Als Josefin am Abend das Essen brachte – wieder einer Prinzessin würdig, das hatte sich also nicht geändert – lag ich erschöpft vor Wut und Verzweiflung auf dem Himmelbett. Ich hatte mir unzählige Szenarios ausgedacht, wie ich jedem in diesem Schloss den Hals umdrehte und das Palastgelände für immer hinter mir ließ, um von Erik mit offenen Armen empfangen zu werden. Ich war sogar Josefin böse, da sie mir nicht mit Klauen und Reißzähnen geholfen hatte zu fliehen. Offenbar vermutete sie, dass ich ihr gerade nicht superfreundschaftlich gesonnen war, denn sie setzte sich schweigend abseits und ließ mich auf sie zukommen, was ich eine Viertelstunde später auch tat. Ich wusste natürlich, dass sie nichts hätte tun können. Eine Flucht, die Erfolg versprach, hätten wir vernünftig planen müssen.

 

Ich bestand darauf, dass Josefin gemeinsam mit mir aß. Was ich nur dadurch erreichte, dass ich mich weigerte, allein zu essen. Wir sprachen kaum ein Wort. Doch ein Satz ihrerseits erreichte, dass unsere zarte Freundschaft und Verbundenheit gefestigt wurde.

 

»Ich kann Euch verstehen«, flüsterte Josefin. »Ich wünschte, ich würde unter ähnlichen Umständen genauso viel Mut zeigen. Es ist ungeheuerlich, dass ein Vater so herzlos reagiert.« Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an – erschrocken darüber, etwas Negatives über ihren König gesagt zu haben.

 

Ich rechnete es ihr hoch an.

 

Später – als ich bereits alleine war und mich gerade zu Bett legen wollte – kam Lennart zu mir, genau, wie er es gesagt hatte. Er war blass und wirkte sehr müde. Er sprach keine Silbe über den König. Offenbar konnte er sich denken, dass ich gut darauf verzichten konnte.

 

»Es tut mir unendlich leid, was Ulrika widerfahren ist«, sagte er aus vollem Herzen. »Ich habe immer geahnt, dass mehr hinter ihrer Flucht steckte als bloße Aufmüpfigkeit.« Er strich sich traurig über die Augen. »Sie war ein wundervolles Mädchen. Sie hatte ihre Geheimnisse, doch sie hätte niemals ohne triftigen Grund ihre Welt dem Untergang überlassen. Doch das …«

 

Ich wusste, er meinte das grausame Schicksal, das ich enttarnt hatte.

 

»Mit so etwas hätte ich niemals gerechnet. Ich bin müde und Ihr sicher zu aufgebracht, um mir Näheres zu berichten.« Er sah mich aufrichtig an.

 

Seine Anteilnahme war echt, das spürte ich.

 

Er ist ein wundervoller Mann, flüsterte Ulrika in meinem Kopf. Ich ließ es zu, begrüßte ihre Stimme, obwohl es mir schwerfiel. Er war der Vater, den ich nie hatte. Obwohl ich nie aufgehört habe, Gustav zu lieben …

 

»Sie hat Sie sehr gemocht«, sagte ich mit belegter Stimme. Er sah mich fragend an.

 

»Ulrika«, verdeutlichte ich. »Sie hat Sie vergöttert.«

 

Tränen traten dem Arzt in die Augen. Er nickte, tätschelte mir das Knie und verabschiedete sich wortlos. Ich blieb allein mit meinen Sorgen. Eingesperrt, weit fort von Erik und mit der Angst um meine Welt und alle meine Freunde im Herzen. Dass ich offenbar Spielball für König Gustavs Pläne sein sollte, wog dagegen leicht wie eine Feder. Ich legte mich auf das Bett und ging meine Optionen durch.

 

Emilie. Irgendwie musste ich herausbekommen, was mit ihr geschehen war. Ich musste sie finden. Doch was dann? Sollte sie zurückkehren, um unsere Welt zu retten und dabei das Leben eines neuen Wesens beenden? Ein Wesen gegen Milliarden Menschen und Tiere …

 

Und der Zweck heiligt die Mittel?, hatte ich Erik sarkastisch gefragt. Nun stellte sich mir diese Frage. Ich fand keine Antwort darauf. Ruhelos wälzte ich mich umher. Der Vanillegeruch der Laken stieg mir diese Nacht eher unangenehm in die Nase. Der süßlich aromatische Duft passte überhaupt nicht zu meinen quälenden Gedanken. Ich schlief kaum, dämmerte mehr in einem Wach-Schlaf-Zustand dahin, suchte im Verborgenen nach Antworten.

 

 

 

Das Tapsen von Füßen drängte sich in mein Bewusstsein, es wurde lauter …Emilie lief durch die Dunkelheit. Sie hatte lediglich ein zartrosa Nachthemd aus fließendem Stoff am Leib. Sie schien etwas zu suchen, doch um sie herum war nur schwärzeste Nacht. Kein Lichtschimmer, kaum Geräusche, doch der kräftige Duft von Rosen lag in der Luft.

 

»Emilie!«, rief ich. »Hier bin ich!«

 

Sie fuhr herum, eilte auf mich zu, ein bräunliches Licht fiel nun auf sie herab.

 

»Isa?«, fragte sie ungläubig. Sie kam näher, etwas vorsichtiger. »Bist du das wirklich?«

 

»Wo bist du, Emilie? Geht es dir gut?«

 

»Ich bin hier …«

 

»Nein, wo bist du?«, fragte ich. »Ich sah dich im Nichts verschwinden. Bist du gewechselt, so wie ich? Geht es dir gut? Bist du hier in meiner Welt? In Ulrikas Welt?«

 

Emilie seufzte. »Ich hätte dir glauben sollen.«

 

Wir standen uns nun in dem bräunlichen Schimmer gegenüber, um uns herum gab es nur schwarze Nacht. Sie sah gesund und unverletzt aus. Lediglich etwas mitgenommen von den Ereignissen der jüngsten Zeit.

 

»Du bist tatsächlich gewechselt«, sagte Emilie kopfschüttelnd. »Ich sah, wie du geleuchtet und geflimmert hast und plötzlich in einem hellen Licht verschwunden bist. Und dann … Dann dehnte sich der Wald um mich herum, Amanda wurde verzerrt, ich sah bunte Muster und Lichter, genau, wie du es erzählt hast.«

 

Sie holte tief Luft. »Und auf einmal fand ich mich an einem See wieder … Einfach so! Aber was machst du hier in meinem Traum?«, fragte sie und sah mich neugierig an.

 

»Du bist in meinem Traum. Ich habe eine Vision, … nehme ich an«, überlegte ich stirnrunzelnd. Irgendwie fühlte sich dies anders an als meine üblichen Visionen. Ich stand hier in dem braunen Schimmer und sprach mit Emilie, als wäre sie tatsächlich da.

 

»Eine Vision?«, fragte Emilie. »Dann funktioniert es jetzt auch mit dir.« Sie nickte zufrieden, als ob ihre kryptische Bemerkung mir logisch vorkommen sollte.

 

»Emilie, was ist hier los?«, fragte ich leicht genervt.

 

»Oh, nichts Gefährliches«, erklärte sie ruhig. »Ich kenne diesen Zustand. Nur, dass wir sonst in einem gelben Licht stehen, nicht in einem roten. Das heißt, für dich sieht das Licht wohl eher braun aus, denn ich bin braun.«

 

»Emilie!«, unterbrach ich sie. »Wovon zum Henker redest du? Und wer ist wir?«

 

Sie sah mich in typischer Emilie-Manier freundlich fragend an, obwohl ich gerade vor Ungeduld ausflippte.

 

»Ich treffe mich sonst in meinen Träumen mit Danny – sie hat ein gelbes Licht. Ich wusste nicht, dass es Danny in Wirklichkeit gibt. Und ich scheine ein braunes Licht zu haben«, versuchte sie, geduldig zu erklären.

 

Ich verstand nur Bahnhof.

 

»Oh!«, rief sie plötzlich. »Das sind die Farben der Elemente! Braun für Erde, gelb für Luft, rot für Feuer. Sehr interessant. Es fehlt nur noch blau für Wasser.« Sie sah sich suchend um, als erwartete sie, das blaue Licht sofort auf uns zukommen zu sehen.

 

Mich interessierte ihre Farbtheorie gerade ganz und gar nicht.

 

»Emilie, sag schon, wer ist Danny?«, unterbrach ich sie erneut.

 

Sie wandte sich wieder mir zu. »Danny ist meine Traumfreundin. Sie ist eine Nephilim … Also müssen Nephilim Luftwesen sein«, schweifte sie erneut ab. »Ja, das ergibt Sinn … Ich bin die Erde, also braun.«

 

Sie sah mich neugierig an. »Aber was bist du, wenn du das Feuer bist?«

 

Ich starrte sie entgeistert an. Ich war Feuer? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie da sprach.

 

»Emilie, was ist passiert? Weshalb bist du gewechselt? Hat es mit mir zu tun?«

 

Sie runzelte die Stirn.

 

»Ja, das ist durchaus möglich. Du könntest der Auslöser sein. Aber ich bin nicht nur gewechselt, Isa, ich habe mit Danny den Platz getauscht.«

 

Die ersten echten Informationen, die Emilie lieferte, und trotzdem machte sie mich nur noch verwirrter.

 

»Du hast was?«

 

Emilie nickte, als ob das Erklärung genug wäre. Doch dann ging sie endlich ins Detail.

 

»Danny ist meine Traumfreundin. Wir trafen uns schon in meiner Welt sehr oft in meinen Träumen. Bis gestern wusste ich nicht einmal, dass sie tatsächlich existiert – in einem anderen Universum. Genau wie dein Erik, Isa. Das ist so verwirrend!«

 

Was sie nicht sagte … Ich knurrte vor Ungeduld in mich hinein. Sie hatte mir die Geschichte um Erik nicht abgenommen, und jetzt redete sie, als wäre er die Erklärung für alles.

 

»Na, auf jeden Fall haben Danny und ich die Plätze getauscht. Sie ist bei Amanda, und ich bin in ihrer Welt.« Emilie nickte wieder, um sich selbst zu bestätigen. »Aber ob Dannys Welt die ist, in der du gerade bist, das weiß ich nicht. Gibt es bei euch Nephilim?«

 

»Was zum Teufel ist eine Nephilim?«, fragte ich völlig überfordert.

 

»Nicht Teufel. Engel, Isa. Nephilim sind die Nachfahren von Kreuzungen zwischen Engeln und Menschen. Ich hätte nur niemals gedacht, dass es sie wirklich gibt.«

 

Engel? Hier ging etwas wirklich Seltsames vor sich. Etwas, das sich mir nicht im Geringsten erschloss.

 

»Nephilim haben Flügel, ähnlich denen von Fledermäusen. Ganz schön gruselig, sag ich dir! Gibt es die da, wo du bist?«

 

Ich beschloss, bei den Fakten zu bleiben. Flügelwesen …

 

»Nein, ich habe noch keine geflügelten Menschen gesehen«, überlegte ich. »Aber ich kenne hier noch nicht sehr viele. Es gibt ja noch andere Länder. Bist du auch wieder in Schweden gelandet?«

 

Erik hatte erzählt, dass es unendlich viele Versionen der Erde gab. Also auch unendlich viele Versionen von Schweden.

 

»Irgendwie schon«, sagte Emilie. »Von der Landschaft her ist es Schweden. Und sie sprechen ähnlich wie wir. Doch hier gibt es keine Reiche oder Länder. Es gibt jedenfalls keinen König von Schweden. Wie das wohl König Carl Gustaf und Silvia gefallen würde?« Sie kicherte.

 

»Dann sind wir nicht im selben Universum gelandet«, stellte ich nüchtern fest. »Hier gibt es einen König von Schweden, und er ist ein riesengroßer Egoist.« Ich verschwieg, dass er mein Großvater war und dass ich, Kronprinzessin Lovisa Ulrika Hedwig von Schweden, seine Marionette spielen sollte, um seinen politischen Machthunger zu stillen.

 

»Nun denn. Du bist also in einer dritten Welt. Und diese Danny ist für dich in unsere Welt gegangen …«

 

Ja, flüsterte Ulrika in meinem Kopf. Das Rad bewegt sich.

 

Emilie sah sich erschrocken um. »Wer war das? Hast du das gehört?«

 

Ich starrte sie perplex an. »Du hast sie auch gehört?«

 

»Ich bin ja nicht taub. Wer war das?«

 

»Das war Ulrika«, sagte ich süffisant. »Ich habe euch doch erzählt, dass sie jetzt mit mir spricht!«

 

Emilie atmete tief durch und trat von einem nackten Fuß auf den anderen, so, als ob sie kalte Füße bekommen hätte. Sie bewegte ihre Zehen.

 

»Hm, dann ist alles wahr, was du uns erzählt hast?«

 

»Ja, was denkst du denn? Dass ich mir das alles aus den Fingern gesaugt habe? Sogar alle meine Geschichten sind wahr, Emilie! Alle Visionen, die ich hatte, alles ist irgendwo, in irgendeiner Welt wahr!«

 

Das Rad bewegt sich, flüsterte Ulrika erneut. Rasend schnell … Neue Lebensformen, wie eine unendliche Reihe von Dominosteinen …

 

Emilie und ich sahen uns unsicher an.

 

»Was meint sie damit?«, fragte Emilie.

 

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur, dass der Wechsel ein Loch in das Universum reißt, das verlassen wird. Dabei entsteht eine neue Lebensform, die so lange wächst, bis das Universum explodiert. Deshalb sollte Erik Ulrika zurückholen. Doch sie weigerte sich. Unter anderem auch deshalb, weil die neue Lebensform sonst getötet worden wäre. Ulrika zeigte mir eine andere Lösung. Als ich an ihrer Stelle wechselte, vereinigen sich das durch ihren Sprung entstandene Wesen und jenes, das durch meinen Wechsel entstand, zu einer weiteren Lebensform, die nicht mehr wächst, sondern nur pulsiert. Diese Welt ist gerettet. Es hat funktioniert.«

 

Ganz genau. Rette sie alle, flüsterte Ulrika. Aber sie sind nicht neu. Nicht neu erschaffen, sondern neu entdeckt. Sie gerieten in Vergessenheit …

 

Ich machte eine Handbewegung, die Ulrikas Stimme mit einschloss.

 

»Du hast es gehört. Ich konnte auf diese Art Eriks Welt retten. Aber jetzt bist du gewechselt, und in unserer Welt – deiner Welt, Emilie – ist ein Loch entstanden. Du musst zurück, um sie alle zu retten, doch tust du das, dann opferst du eine neue Lebensform.«

 

Emilie sah mich mit großen Augen an.

 

»Ich habe schon versucht zurückzukommen, glaube mir«, versicherte sie mir. »Das hier war doch viel zu ungeheuerlich. Ich wollte nach Hause. Ich will nach Hause. Aber es geht nicht.« Sie zögerte, dachte nach. »Und wie soll ich nun wählen, jetzt, wo ich von den neuen Wesen weiß?«

 

Ja, das hatte Ulrika sich auch gefragt.

 

»Ich weiß es nicht«, flüsterte ich. »Heiligt der Zweck die Mittel? Ein Wesen gegen Milliarden Lebewesen auf der Erde …«

 

»Und wer weiß, wie viele noch im ganzen Universum«, fügte Emilie hinzu. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Wer sagte denn, dass nur die Erde bewohnt war? Ein Universum war unendlich groß …

 

Wir schwiegen, standen uns in unseren Nachthemden gegenüber, irgendwo in der Traumlandschaft zwischen Wachen und Schlafen.

 

»Danny wechselte für mich«, sagte Emilie auf einmal. »Vielleicht erschufen wir auf diese Weise solch ein pulsierendes Wesen, von dem du gesprochen hast? Eines, das nicht wächst? Sonst wäre ja auch Dannys Welt in Gefahr …«

 

Das Rad dreht sich, flüsterte Ulrika. Die Dominosteine fallen … Was einst geschah, wiederholt sich nun …

 

Weder Emilie noch ich verstanden den konkreten Sinn ihrer prophetisch klingenden Worte. Nur, dass wir etwas in Gang gesetzt hatten, das einst schon einmal in Bewegung gewesen war. War es gut? War es verheerend? Wir wussten es nicht. Doch laut Ulrika – meiner verrückten Mutter – schien es der Anfang von Rette sie alle zu sein. Konnte ich ihr wirklich trauen?

 

»Ich werde Danny fragen, was sie …« Emilie zuckte zusammen. »Ich werde gerufen! Sie wecken mich! Findest du mich wieder? Ich warte hier auf dich!«

 

Dann war sie verschwunden und unsere Traumbegegnung beendet.

 

Ich fuhr mit einem Ruck in meinem Himmelbett hoch. Es war noch sehr früh. Im Schloss war es still. Durch die hohen römischen Fenster starrte ich in die Dunkelheit. Ich hatte vergessen, eines der Fensterprogramme zu aktivieren.