Leseprobe Die Erben der alten Zeit - Ragnarök

1. Jonas Befürchtungen

 

Der Wind rüttelte an den Fensterläden und trieb eisige Schneeflocken gegen das dunkle Glas. Die kleinen wirbelnden Kristalle wurden kurz vom Kerzenlicht im Raum erhellt und verschwanden dann im Dunkeln entlang der Hauswand der Bibliothek von Storby.

 

Es war früher Nachmittag und trotzdem stockdunkel. Und obwohl die Bibliothek mitten in der Stadt lag, war nirgends Licht zu sehen - keine Autoscheinwerfer, keine Straßenlaternen, keine Schaufensterbeleuchtung, nichts.

 

Es war Montag, der 29. Mai. Vormittags war es zunächst grau und neblig gewesen, doch dann hatte die Frühlingssonne die Straßen von Storby erwärmt. Saftig grünes Gras und Frühlingsblumen schienen so schnell zu sprießen, dass man fast zusehen konnte und nun …

 

Mindestens ein Meter Schnee und Hagel bedeckten die Straße, den Parkplatz, die Beete und den Vorhof der Bibliothek. Ein einsames Auto war unter meterhohen Schneeverwehungen und einem riesigen Ast begraben, der aus dem großen Ahorn am Parkplatz gebrochen war. Innerhalb kürzester Zeit hatte dieser unerwartete Sturm die sanfte Landschaft Smâlands in eine Tiefkühltruhe verwandelt, und es schien immer kälter zu werden.

 

 

 

Offenbar breitete sich ein Wirbelsturm mit nie dagewesener Intensität über ganz Europa aus. Auch Teile Russlands und Nordafrikas waren bereits betroffen. Seltsamerweise schien dieser eisige Sturm sein Zentrum genau im smâländischen Storby in Schweden zu haben.

 

 

 

Die wenigen Menschen, die sich zu Beginn des Sturms in der Bibliothek aufgehalten hatten, harrten nun in einem kleinen Konferenzsaal bei etwas Essen und Kerzenlicht aus. Aus dem Keller war das Dröhnen eines dieselbetriebenen Generators zu hören, das dafür sorgte, dass sie nicht froren – noch nicht.

 

Die junge, sportliche Lehrerin Âsa saß an dem großen Konferenztisch und betrachtete besorgt ihren neunjährigen Schüler Linus, der fern aller Sorgen ein neues Automagazin von einem großen Stapel nahm und unter seltsamen, glottalen Lauten darin herumzublättern begann. Vor jedem neuen Blatt leckte er sich seinen dicken Zeigefinger ab, um auch ja keine der kostbaren Seiten auszulassen. Zwischendurch lachte er laut auf, riss die Hände in die Höhe und flatterte mit seinen fleischigen Fingern in der Luft herum. Dann zeigte er – einen suchenden Blick auf Âsa – mit dem kurzen Zeigefinger auf ein besonders interessantes Auto, wartete ungeduldig ihren aufmunternden Kommentar ab und ging im nächsten Moment wieder zufrieden dazu über, ein Bild nach dem anderen genau unter die Lupe zu nehmen. Âsa seufzte und schüttelte besorgt den Kopf. Sie schob sich die Brille auf der Nase zurecht und fuhr sich durch ihre kurzen, braunen Haare. Âsa war Lehrerin im Zentrum für Autismus und autistische Störungen in Storby. Linus Schule lag gleich neben einer Grundschule, die auch Âsas eigene Kinder besuchten.

 

Eine ältere Dame mit runden, freundlichen Augen und einem ebensolchem Gesicht lächelte Âsa beruhigend zu und reichte ihr eine neue Tasse Kaffee.

 

Mit einem »Danke, Kaisa« nahm Âsa die dampfende Tasse entgegen. Kaisa nickte und ließ ihren Blick durch den Raum gleiten. Er blieb an der Tür hängen, durch die Roger, ein junger Student, vor kurzem mit einem gemurmelten »Bin gleich wieder da,« verschwunden war. Mitgenommen hatte er das kleine Radio – ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Kaisa wusste, dass er nach Empfang suchte, um die neuesten Nachrichten aus aller Welt zu hören.

 

Eva, die Bibliothekarin, war klein und zierlich und hatte kurzes, strubbeliges Haar, das wie ein goldener Haufen Stroh in alle Himmelsrichtungen stand. Ihre wachen, blauen Augen betrachteten einen Bär von Mann, der gedankenversunken mit einem Buch am Fenster stand und nach draußen starrte. Seine muskulösen, sehr kräftigen Oberarme quollen aus einem T-Shirt mit der Aufschrift falsch trainiert hervor, das sich quer über seinen prallen Bierbauch spannte. Tätowierte Schlangen wanden sich seine Arme hinauf, und ein Feuer speiender Drache wickelte sich um seinen Bizeps. Über dem T-Shirt trug er eine Lederweste. Die viel zu großen Füße steckten in abgetragenen, schmutzigen Lederstiefeln. Einige sorgenvolle Runzeln waren auf der Stirn des Mannes erschienen, die nahtlos in eine Glatze überging. Seine rotbraunen Haare trug er stattdessen im Gesicht, dem eine große, knubbelige Nase eine besondere Note verlieh. Die treuen Bernhardineraugen, die Eva so mochte, waren erstarrt.

 

Jonas sah ins Leere. Nordische Mythologie war auf dem Rücken des Buches zu lesen, in dem er gedankenverloren blätterte. Die rissige, harte Haut, die von harter körperlicher Arbeit zeugte, verursachte ein leises, kratzendes Geräusch auf dem Papier und schien ein einziges Wort aus dem Text herausschaben zu wollen: Ragnarök.

 

Ein kalter Schauer lief Eva über den Rücken. Sie öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, eilte Roger zur Tür herein. Er zog sie hastig hinter sich ins Schloss, trotzdem konnte Eva die Kälte spüren, die wie eine eisige Hand nach ihnen griff.

 

Alle im Raum – bis auf Linus, der begeistert seine Autos betrachtete – sahen den Studenten mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst an.

 

Roger wechselte einen hastigen Blick mit Jonas, der sich aus seinen Gedanken losgerissen hatte und dem dunklen Fenster den Rücken zukehrte.

 

»Also …« begann Roger zögernd. Dann holte er tief Luft, als würde er sich wappnen wollen. Er räusperte sich.

 

»Der Sturm hat ganz Europa, große Teile Afrikas und Asiens in seinem Griff. Jetzt fegt er über den Atlantik und erreicht bald die Küste Kanadas.«

 

»Was?«, entfuhr es Âsa, die ganz blass geworden war. Roger nickte.

 

»Es ist überall das Gleiche: Schnee, Hagel, eisige Luft und natürlich Stromausfall und kein Handyempfang, da die Masten umgestürzt sind. Festnetzverbindungen funktionieren offenbar vielerorts noch und die guten alten Radiowellen auch. Internet und viele digitale Geräte gehen dagegen nicht. Keiner weiß warum. Es gibt allerdings auch eine gute Nachricht. Der Sturm hier bei uns lässt nach, also hoffen jetzt alle, dass dieser Albtraum bald ein Ende hat.« Roger verstummte. Jonas spürte, dass er etwas verschwieg.

 

»Alle hoffen das?«, fragte Jonas mit seiner tiefen Stimme und hob seine buschigen Augenbrauen. »Aber alle glauben nicht daran?«

 

Roger senkte die Augen. Mit einem flackernden Blick auf Âsa und Kaisa schüttelte der großgewachsene, schlaksige Student langsam den Kopf. Er hob einen seiner langen Arme und nahm seine Lesebrille ab, die ihm auf seiner langen, spitzen Nase herabgerutscht war. Er seufzte.

 

»Eigentlich glauben sie, dass wir uns im Auge des Sturms befinden. Es ist wie mit einem Wirbelsturm, der über das Land zieht. Im Zentrum des Sturms ist es plötzlich windstill. Gespenstisch«, fügte er hinzu. »Normalerweise zieht ein Wirbelsturm weiter und das Zentrum bewegt sich dadurch. Bei diesem Sturm bleibt das Zentrum dagegen stationär. Er breitet sich lediglich weiter aus.« Roger zuckte etwas hilflos mit seinen Achseln. »Wenn es so weitergeht, dann ist es hier bei uns bald ganz windstill, während der Sturm in enormen Kreisen über den restlichen Erdball fegt. Eigentlich ist es wohl genau das, was schon passiert, und da solch ein Wetterphänomen nicht auf natürliche Weise entstehen kann, sprechen alle von geheimen Experimenten hier in Storby.« Er schnaubte. »Kann sich das einer vorstellen? Eine geheime Einrichtung, die womöglich vom Staat finanzierte Experimente durchgeführt hat und jetzt …« Roger lies den Rest des Satzes in der Luft hängen. Kaisa lehnte sich vor.

 

»Und jetzt verlangt die Welt eine Erklärung, sonst werfen sie eine Bombe auf uns?«, fragte sie sarkastisch. Âsa ließ einen quiekenden Ton hören und schlug die Hände vor den Mund. Roger lächelte nachsichtig und schüttelte den Kopf.

 

»Nun, wohl kaum. Sie wissen ja nicht, womit sie es zu tun haben. Voreilige Entschlüsse können verheerende Folgen haben, das sagte zumindest ein sogenannter Experte.« Roger schnaubte wieder. »Experte für was, frage ich mich, wenn sie nicht einmal wissen, womit sie es zu tun haben! Sie diskutieren aber auch darüber, ob nicht Österreich oder Deutschland das Chaos verursacht haben. Ihr wisst doch: Dieser Berg, der heute Morgen ganz Salzburg platt gemacht hat. Und nun gibt es dort diesen seltsamen, blauen Nebel, in dem riesige Felsformationen zu sehen sind.« Roger schlug mit seinen langen Armen aus. »Die Experten glauben natürlich nicht an einen Zufall, also stehen die österreichischen und deutschen Regierungen genauso im Fokus der Weltöffentlichkeit.« Alle schwiegen und sahen sich gegenseitig an. Jonas hielt immer noch das Buch über nordische Mythologie in der Hand und starrte nun auf das Wort, das er mit seinem Daumen markiert hatte: Ragnarök.

 

»Ich glaube nicht an ein geheimes Wetterexperiment.« Alle Augen richteten sich auf ihn. »Ich muss mit jemandem sprechen, der etwas zu sagen hat«, sagte er dann mehr zu sich selbst als zu den Anwesenden. Hastig sammelte er weitere Bücher zusammen, die alle nur ein Thema hatten: Nordische Mythologie.

 

 

 

Jonas war keineswegs begeistert, als Âsa verkündete, dass sie ihn begleiten würde, aber er äußerte keine Einwände.

 

»Sobald Linus seine Hefte fertig durchhat, wird er ohnehin aufbrechen wollen«, erklärte Âsa. Linus brauchte seinen gewohnten Tagesablauf wie die Luft zum Atmen, und der sah nun einmal vor, dass er Schule hatte und zwar im Autistenzentrum. »Es wird kein Vergnügen, wenn Linus` Tagesplan durcheinander gerät«, versicherte Âsa. Jonas erinnerte sich an die sirenenartigen Schreie, die das dicke Kind von sich gegeben hatte, als der Strom ausgefallen war. Also willigte er ein, Âsa und Linus bis zum Polizeirevier mitzunehmen. Von da aus waren es nur noch wenige hundert Meter bergab bis zur Schule. Eva eilte davon und kehrte wenig später mit einem knallroten Plastikschlitten, den sie aus dem Keller geholt hatte, zurück. Jonas riet Eva, Kaisa und Roger in der Bibliothek zu bleiben. Hier gab es Essen und eine Heizung, und abgesehen davon wohnten alle drei etwas außerhalb von Storby. Wie sollten sie bei diesem Wetter nach Hause gelangen?

 

»Ich bin bald zurück«, versprach Jonas und drückte Eva einen feuchten Kuss auf die Stirn. Sie errötete und lächelte verlegen, dann kehrte ihre Unruhe zurück.

 

»Pass auf dich auf«, murmelte sie und bekam nur ein schnaufendes: »Natürlich« zur Antwort, als Jonas, in eine Decke gewickelt, an die große, gläserne Tür trat. Sie öffnete sich automatisch, denn das Aggregat lieferte den nötigen Strom. Eiskalte Luft strömte herein. Jonas wandte sich noch mal um.

 

»Und denkt daran, so wenig Strom wie möglich zu verbrauchen«, ermahnte er die Bibliotheksleiterin. Dann schnappte er sich Linus und platzierte ihn mit einer einzigen Bewegung in den Schlitten. Ungerührt von ohrenbetäubendem Protestgeschrei wickelte er eine dicke Decke um Linus, verstaute die Leinentasche mit seinen Büchern hinter dem Rücken des Jungen, dann setzte sich das ungleiche Paar in Bewegung.

 

Als der Schlitten über eine Schneewehe hinabsauste, machte das Geheul einem perlenden Lachen Platz. Âsa verabschiedete sich hastig und stapfte hinter Jonas und Linus her.

 

Der Sturm hatte mittlerweile nachgelassen. Dicke Schneeflocken segelten scheinbar friedlich auf Jonas herab und schmolzen auf seiner Glatze. Er atmete angestrengt, während er sich mit dem Schlitten und Linus im Schlepptau durch den Neuschnee kämpfte. Der Junge saß eingemummelt in der flachen Plastikschale und quiekte vor sich hin. Âsa versank unterdessen bei jedem Schritt bis zu den Oberschenkeln im Schnee. Es war immer noch dunkel wie in der Nacht. Ein blaugrau schimmerndes Zwielicht ermöglichte trotzdem eine recht gute Sicht. Es war, als würde der Vollmond den weißen Schnee zum Leuchten bringen, doch tatsächlich war es die fahle Scheibe der Sonne, die sich irgendwo hinter extrem dichten Schneewolken verbarg.

 

An der nächsten Kreuzung hielt Jonas inne. Links verdeckten Häuser und hohe Bäume die Sicht, doch Jonas wusste, dass der »Ân«, der Fluss, der durch Storby führte, sich nicht weit hinter den Bäumen entlangschlängelte. Schwarze Wolkenfetzen erhoben sich dort und zogen auf sie zu. Unten, am Ende des kleinen Hügels, lag das Autistenzentrum. Jonas konnte das Gebäude schemenhaft hinter einigen hohen Kiefern erkennen.

 

»Schaffst du es alleine zum Zentrum?«, fragte Jonas und drehte sich zu Âsa um, die schwer atmend zu ihm aufschloss.

 

»Ich probiere es«, japste Âsa. Jonas nickte.

 

»Ich würde wirklich gerne so schnell wie möglich mit Stig Larsson von der Polizei sprechen«, erklärte er und zog die Leinentasche mit den Büchern hervor. »Wenn der Sturm weiterwütet, dann zählt jede Minute.«

 

Âsa stapfte vorwärts. Der Schlitten war ein Stück in den Schnee eingesackt, und Jonas gab ihm einen kräftigen Schubs. Linus jauchzte wieder und ließ ein abgehacktes Lachen hören.

 

»Danke«, rief Âsa über die Schulter und zog Linus hinter sich her. Jonas sah ihnen eine Weile nach und erkannte beruhigt, dass der Schlitten fast von alleine den Hügel hinab glitt. Er wandte sich zum Gehen.

 

Das Polizeirevier lag nur zwei Gebäude weiter. In Gedanken war er längst wieder bei den Mysterien der nordischen Mythologie und seinem schrecklichen Verdacht, als plötzlich neben ihm die Tür aufgestoßen wurde und ein Gewehrlauf zum Vorschein kam. Ein Mann, vom Alter gekrümmt und mit so runzeliger Haut, dass es schwer war zu erkennen, wo die Augen saßen, zielte mit erstaunlich sicherer Hand direkt an Jonas Kopf vorbei in den Himmel. Jonas blieb wie angewurzelt stehen, starrte den Alten mit einer Mischung aus Ärger und Überraschung an. Sein Blick folgte dann automatisch dem Lauf des Gewehres, schwarze Wolkenfetzen zogen rasch heran und im nächsten Atemzug gefror Jonas das Blut in den Adern!

 

»Verschwindet von hier, ihr Dämonen der Nacht!«, schrie der Alte mit rauer Stimme, während er versuchte Jonas zur Seite zu drängeln.

 

»Âsa!«, brüllte Jonas aus voller Lunge. Plötzlich ertönte ein lauter Knall, der ihm fast das Trommelfell zerriss. Jonas fuhr erschrocken zusammen und sah, wie der Alte das Gewehr neu lud und zielte …

 

 

 

Âsa war beim Knall erschrocken stehen geblieben und sah sich angespannt um. Sie erkannte Jonas schemenhaft oben auf dem Berg, und dann stürzte plötzlich etwas Schwarzes aus der Luft auf sie herab!

 

Sie wurde gepackt und zu Boden gerissen. Bevor sie auch nur einen Ton von sich geben konnte, durchzuckte ein stechender Schmerz ihren Hals. Ein gurgelnder Laut entrang sich ihrer Kehle. Dann spürte sie, wie etwas Warmes, Klebriges über ihre Schulter lief. Panik überrollte sie. Âsa versuchte sich auf den Rücken zu wälzen. Sie schlug mit der Hand aus, doch scharfe Klauen ergriffen ihren Arm und bohrten sich tief in ihr Handgelenk. Neben ihr begann Linus laut zu kreischen. Seine Schreie waren das Letzte was Âsa hörte. Die ewige Nacht schloss sich um ihre Sinne.

 

 

 

Mit lautem Brüllen rannte Jonas auf die Stelle zu, an der Asa und Linus unter schwarzen Schatten verschwunden waren, doch im tiefen Schnee kam er nicht schnell voran. Plötzlich begann Linus eine Oktave höher zu schreien. Die schwarzen Schatten zuckten zusammen und zogen sich wild flatternd in den düsteren Himmel zurück. Das Wesen, das über Âsa kauerte, gab ein Kreischen von sich, das Jonas durch Mark und Bein drang. Dann erhob sich es sich mit Âsas schlaffen Körper in den Klauen in die Lüfte.

 

Und dann fiel es Jonas wie Schuppen von den Augen: Was er als ein einziges gigantisches Wesen aufgefasst hatte, waren in Wirklichkeit mindestens drei verschiedene Kreaturen! Sie schlugen mit ihren großen, lederartigen Flügeln um sich und zerrten mit ihren Krallen an Âsas Körper herum, als wollten sie die kleine Gestalt in Stücke reißen. Jonas erstarrte. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. Er, der Bär von einem Mann, war völlig machtlos, als die fremdartigen Geschöpfe mit ihrer Beute hinter den Häusern der Stadt verschwanden.

 

Linus‘ Kreischen riss Jonas aus seiner Starre. Er hastete die letzten Meter den Hügel hinunter und warf sich neben dem verstörten Jungen in den Schnee. Große Tränen kullerten über Linus‘ Wangen. Seine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Linus‘ Gesicht war rot angelaufen – Brüllen strengte an – und er fuchtelte wild mit seinen kurzen, dicken Armen um sich, während er schrie und schrie und schrie und abwechselnd auf Jonas und auf den blutrot gefärbten Schnee starrte, wo eine einsame, ebenso blutgetränkte Wolldecke neben einer verbogenen Brille lag.

 

Jonas schluckte und holte tief Luft. Er ließ seinen Blick unruhig über den fahlen Himmel gleiten, während er vergeblich versuchte, den Jungen zu beruhigen. Als Jonas die unheimlichen Wesen wie dunkle Wolkenfetzen über die Häuser gen Süden ziehen sah, packte er kurzerhand das Schlittenseil und stapfte den Hügel empor. Keuchend vor Anstrengung erreichte er das Haus des alten Mannes.

 

»Das Geschrei dieses Bengels hat sie vertrieben!«, hörte Jonas ihn rufen. Der wehrhafte Greis hielt das Gewehr noch immer schussbereit in den Händen. »Zumindest ist dieser Krüppel zu irgendetwas gut«, krächzte er heiser. »Wir sollten ihn zur Verteidigung hier vor dem Haus anbinden, aber jetzt wo die Welt untergeht, macht das wohl auch keinen Unterschied mehr.« Mit diesen Worten schlug der Alte seine Haustür zu und überließ Jonas und Linus ihrem Schicksal. Jonas konnte sehen, wie der Alte am Fenster grimmig durch die Gardine spähte. Dann hob er die Leinentasche auf, die er in aller Hektik einfach fallen gelassen hatte und eilte mit Linus in Richtung Polizeirevier.

 

Schnaufend und knurrend stieß er die Tür des Amtsgebäudes auf und prallte umgehend mit einem extrem dicken Bauch zusammen, der zu einem älteren Polizisten namens Lundin gehörte. Ove Lundin war ebenso breit wie lang und so glatzköpfig wie der unerwartete Besucher, der mit einem schreienden, in einer Wolldecke eingepackten Bündel über der Schulter hereingestapft war.

 

»Was in Gottes Namen fällt ihnen ein …!«, brüllte Lundin, während sich seine kleinen, wachen Augen zu Schlitzen verengten. Doch Jonas schob den dicken Mann einfach beiseite und ließ das hysterisch schreiende Kind auf ein Sofa fallen. Türen flogen auf und Polizisten und Sekretärinnen stürmten herbei.

 

»Er liebt Autos!«, brüllte Jonas. »Hat mal jemand eine Autozeitschrift?« Alle starrten Jonas an, als sei er aus einem Irrenhaus entsprungen.

 

»Die hier vielleicht?« fragte eine junge Polizistin nach einer halben Ewigkeit und wedelte mit einem Annoncenblatt für Luxusschlitten in der Luft herum. Jonas griff zu und hielt Linus das Poster eines zitronengelben Sportwagens unter die Nase.

 

»Sieh mal, Linus, ist der nicht schön?«, log Jonas und tippte auf die Zitrone auf dem Deckblatt. Erstaunlicherweise beruhigte sich Linus. Seine Schreie wurden leiser und unregelmäßiger, und je weiter seine dicken Finger blätterten, desto leiser wurde es.

 

»Wir brauchen noch mehr davon«, brummte Jonas und zeigte auf die Autozeitschrift. Die Polizistin schien zu verstehen.

 

»Sucht alles zusammen, was ihr finden könnt!«, befahl sie. Ove Lundin, der mit seinem Schnauzbart einem Walross ähnelte, war damit keineswegs einverstanden und plusterte sich auf.

 

»Weshalb schleppst du dieses Kind an?«, polterte er. »Wir haben hier eine weltweite Krise! Wir haben keine Zeit zum Kinderhüten!«

 

Jonas baute sich in aller Größe vor dem Beamten auf.

 

»Ich bringe ihn her, weil seine Lehrerin gerade von einem schwarzen Monster in Stücke gerissen wurde«, brüllte er zurück. Hastig erzählte Jonas, was sich soeben draußen zugetragen hatte.

 

»Ich konnte ihn nicht zur Schule zu bringen weil ich dringend mit Stig Larsson sprechen muss.« Er drehte sich suchend um. »Wo ist er!« Stig Larsson trat hinter der jungen Polizistin hervor.

 

»Ich habe doch gesagt, dass ich dort draußen seltsame Wesen vorbeifliegen gesehen habe«, sagte Stig ruhig an Ove Lundin gewandt. Ein wildes Gemurmel war die Folge, bis Ove »Ruhe!« brüllte.

 

»Hat der hier etwa das Sagen?« fragte Jonas verblüfft und schaute den untersetzten, dicken Mann zum ersten Mal genau an. Die Polizistin lächelte verlegen.

 

»Das hier ist Ove Lundin, unser neuer Polizeichef. Ich bin Annika und leite das Team.«

 

Jonas kratzte sich brummend am Hinterkopf und versuchte seine Gedanken zu sortieren. Er sah auf Linus, der mit rotgeschwollenem Gesicht und Tränen auf den Wangen Autos betrachtete, er dachte an die arme Âsa und das viele Blut, er sah diese seltsamen Wesen vor sich – wie Vampire – und er dachte an all das, was er über die nordische Mythologie wusste. Und er dachte an Charlie …

 

»Es geht um meine Charlie, um Charlotta Johannson«, fügte er hinzu. Stig Larsson runzelte die Stirn.

 

»Ist die nun doch bei dir aufgetaucht?«, fragte er. Oves kleine Augen fuhren wachsam umher.

 

»Charlotta Johannson? Die kleine Ausreißerin, nach der du fahndest?« Stig nickte.

 

»Was ist mit ihr?«, fragte Ove, der wesentlich ruhiger wirkte, seit Linus aufgehört hatte zu schreien.

 

»Ich verstehe ja, dass du dir um die Kleine sorgen machst, Jonas«, begann Stig. »Wenn sie wieder da ist, umso besser. Behalte sie bei dir, wir haben zurzeit andere Sorgen.« Er nickte in Richtung Fenster, wo sich Schneeblumen am Glas gebildet hatten, Ende Mai. Jonas schüttelte energisch den Kopf.

 

»Nein, nein!«, stieß er hervor. »Sie ist … wie soll ich das sagen …«

 

»Entschuldige bitte, Jonas war der Name?«, fragte Ove und blickte mit seinen wachen, leicht schielenden Augen zu dem Besucher auf. Jonas blinzelte.

 

»Ja?«

 

»Wenn dieses Mädchen nicht irgendetwas mit diesem Sturm da draußen zu tun hat, dann bitte ich dich hiermit, uns jetzt unsere Arbeit machen zu lassen«, sagte er in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass Charlie seiner Meinung nach unwichtig war. »Das Militär hat bereits eine Basis außerhalb von Storby errichtet. Hubschrauber erkunden das Phänomen von oben und Wissenschaftler arbeiten auf Hochtouren daran, herauszufinden, was hier los ist. Es ist alles unter Kontrolle. Wir danken dir für die Information über diese … äh … Wesen … hm, dort draußen, aber …« Jonas schüttelte den Kopf.

 

»Aber Charlie hat etwas damit zu tun!«, rief er. Ove verstummte und sah Jonas skeptisch an. Stig runzelte die Stirn und fragte ruhig:

 

»Inwiefern glaubst du, dass ein 14-jähriges, verschwundenes Mädchen etwas mit dieser weltumspannenden Katastrophe zu tun haben kann?« Jonas atmete tief durch und fuhr sich über seine Glatze.

 

»Das ist kompliziert«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Und ich bin mir darüber im Klaren, dass meine Vermutungen abenteuerlich und völlig absurd klingen mögen, aber«, er zeigte mit der Hand zum schneebedeckten Fensterbrett, »das da draußen ist auch vollkommen absurd! Ein stationärer Wirbelsturm mit Zentrum in Storby? Schwarze Wesen, die wie Vampire Menschen angreifen?«

 

Ove nickte ungeduldig.

 

»Ja, ja, worauf willst du hinaus?«

 

Jonas begann auf und ab zu gehen und strich sich dabei über den Bart.

 

»Also, das ist so«, begann er und dann erzählte Jonas den skeptisch dreinblickenden, aber gespannt zuhörenden Polizisten Charlies Geschichte.

 

»Dass Charlie am Samstag Früh vom Heim als vermisst gemeldet wurde, das wisst ihr ja. Sie rief mich abends an«, erzählte er mit einem entschuldigenden Blick auf Stig, der leise knurrte, aber zu Jonas Erleichterung nichts sagte. Das Waisenkind Charlie war schon etliche Male ausgerissen und bei Jonas – einem Freund der Familie – untergetaucht. Jonas war der Umgang mit dem rebellischen Mädchen verboten worden, da er laut Behörden einen schlechten Einfluss auf das Kind hatte. Doch eigentlich sah es so aus – und das wusste natürlich auch ein guter Polizist wie Stig – dass dieser Mann der einzige Mensch war, dem Charlotta vertraute. Selbstverständlich hatte er sofort bei Jonas nachgefragt, als die zuständige Sozialarbeiterin Ingrid Olafsson ihn vorgestern etwas entnervt angerufen und von Charlies erneuter Flucht berichtet hatte. Und obwohl Jonas ihm versichert hatte, dass Charlie nicht bei ihm war, hatte er sich selbst davon überzeugen wollen und war zu Jonas hinübergefahren. Doch er hatte die Wohnung leer vorgefunden. Nun hatte sich Charlotta also, wie erwartet, doch bei Jonas gemeldet.

 

»Ich habe sie also abgeholt, meine Charlie, und noch zwei andere Kinder«, fuhr Jonas fort.

 

»Sie war nicht allein?«, mischte sich Ove ein.

 

»Nein«, antwortete Jonas. »Charlie war mit einem anderen Mädchen und einem älteren Jungen unterwegs, sie nannten sich Tora und Kunar und sprachen einen mir unbekannten nordischen Dialekt.«

 

Stig runzelte die Stirn und hörte aufmerksam zu. Charlotta war bisher immer auf eigene Faust losgezogen. Hilfe von anderen Kindern hatte sie niemals gehabt.

 

Jonas redete sich in Fahrt. Er erzählte von Charlies unglaublicher Geschichte, die er natürlich als reine Fantasie abgetan hatte. Wie sollte es denn auch möglich gewesen sein? Charlie war gerade einmal einen Tag vermisst gewesen und behauptete, unzählige Abenteuer auf einem Planeten namens Godheim erlebt zu haben, auf dem sie mehr als vier Monate verbracht haben wollte! Sie erzählte von Fabeltieren, von einer altnordischen Lebensweise und von Magie. In dieser fremden Welt, in die sie durch eine dichte Nebelwand geraten war, gab es Menschen mit magischen Fähigkeiten, die sich nach den alten nordischen Göttern nannten.

 

»Ihr wisst schon: Tor, Brage, Freja, und so weiter«, sagte Jonas. »Und dort soll ein böser Magier herrschen, der sich Oden nennt. Ich habe ihr natürlich kein Wort geglaubt und sie auf das Phänomen der Zeit hingewiesen. Charlie war total überrascht«, erzählte Jonas. Genauso war es gewesen. Charlie und ihre Freunde, die behaupteten in einem Land namens Vanaheim zu leben und schworen, alles miterlebt zu haben, hatten keine Ahnung davon gehabt, dass es offenbar einen Zeitunterschied zwischen ihren Welten gab. Jonas hatte mitgespielt und sie am nächsten Tag mit Evas Schlüssel in die Bibliothek gelassen. Sie hatten sich Bücher über die nordische Mythologie und über Fabeltiere ausgeliehen, und dann hatte er die Kinder mit zum Offroad-Fahren genommen. Abends waren sie dann in einer Hütte am Trollsee untergetaucht, da Jonas ganz richtig vermutet hatte, dass Stig Larsson persönlich vorbeikommen würde. Und am nächsten Morgen war es dann passiert: Charlie und die Geschwister waren doch tatsächlich im Nebel, der sich am See gebildet hatte, verschwunden!

 

»Als hätten sie sich in Luft aufgelöst«, sagte Jonas mit rauer Stimme. »Sie waren einfach fort! Und dann … dann habe ich noch eine Weile nachgedacht, bin nach Hause und dann mit dem Bus nach Storby zur Bibliothek.«

 

Stig fragte nicht, wie Jonas vom See nach Hause gekommen war, er konnte es sich denken. Jonas alter Offroad-Suzuki war nicht für den Verkehr zugelassen. Er knurrte leise und ließ Jonas ausreden.

 

»Dort habe ich dann meine Kenntnisse über die nordische Mythologie aufgefrischt und das hier gefunden.« Er schüttelte seine Leinentasche aus, griff gezielt nach einem Buch und schlug es auf. Stig konnte die Kapitelüberschrift Ragnarök erkennen. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Ove dagegen begann, die Geduld zu verlieren.

 

»Du willst uns doch nicht weis machen, dass du uns all dies nur erzählt hast, um uns dann mit einer Weltuntergangsverschwörungstheorie zu kommen!«, polterte der Polizeichef mit hochrotem Gesicht los. »Und dafür haben wir unsere kostbare Zeit vergeudet? Raus hier!«, brüllte Ove so laut, dass die Spitzen seines Walrossbartes zitterten. Doch Jonas sah nur Stig an, der sich das Buch genommen hatte und halblaut vorzulesen begann. Stigs Blick war starr auf das Blatt gerichtet und Jonas spürte, dass der üblicherweise so ruhige Mann angespannt wirkte, so als würde er etwas wissen, das den anderen nicht bekannt war. Und obwohl eigentlich niemand im Raum Jonas Geschichte Glauben schenkte, hörten sie gebannt zu, als Stig laut zu lesen begann:

 

»Ragnarök. Das Ende der Welt, wie wir sie kennen, wird mit einer Klimaveränderung eingeleitet, was bedeutet, dass der ewige Winter herrschen wird, denn das war gemäß unseren Vorvätern das sichere Zeichen, dass die Schicksalsmächte am Werk waren. Ragnarök wird also mit dem ewigen Winter – dem so genannten Fimbulwinter eingeleitet, einer weltumfassenden Eiszeit. Fimbulwinter bedeutet so viel wie der große Winter und er zeichnet sich durch verheerende Stürme aus, die eine Eiseskälte mit sich führen. Die Sonne ist nur noch eine blasse Erinnerung, da sie vom Himmelsgewölbe verschwunden ist – verschluckt von dem monströsen Fenriswolf, der unsere lebensspende Quelle seit Urzeiten gejagt und nun endlich erlegt hat. Nachdem die Sonne und der Mond dem mächtigen Schlund des Fenriswolfes zum Opfer gefallen sind, verschwinden auch alle Sterne vom Himmel und leiten unzählige Naturkatastrophen ein. Die Erde und alle Berge fangen an zu beben, Bäume werden mit ihren Wurzeln ausgerissen und ganze Gebirge stoßen zusammen. Ragnaröks erste Phase wird dadurch gekennzeichnet, dass unter diesen extremen Naturverhältnissen alle Fesseln und Ketten, die den Kreislauf aller Welten zusammenhalten, gesprengt werden. Wenn alles frei ist, was zuvor gebunden war, werden die ungezähmten Naturkräfte auf eine fast unvorstellbare Weise freigesetzt. Das Meer tritt über seine Ufer und ertränkt gewaltige Landmassen, da der Midgârdsorm, so heißt der Lindwurm, der die Festung der Menschen einzäunte, sich in unbändigem Zorn am Meeresboden windet und die mächtigsten Wogen aller Zeiten heraufpeitscht. Danach zieht es den mächtigen Lindwurm an Land, wo er gemeinsam mit seinem Bruder, dem Fenriswolf, sein Unheilswerk verrichtet. Feuer schlägt aus den Augen und dem Mund des Wolfes, während der Midgârdsorm sein Gift über das Land spuckt und Luft und Wasser verdirbt.« Stig hielt inne und starrte auf den Text vor sich. Linus hatte das Heft zu Ende gelesen und machte plötzlich mit stotternden, abgehakten Lauten auf sich aufmerksam. Als keiner reagierte, begann er wieder zu schreien. Annika löste sich aus ihrer Starre und hastete in das Zimmer ihres Kollegen Lars, der ihr unter Protest folgte.

 

»Nein!«, rief er, als Annika mit einer Sammlung Hefte über antike Vehikel im Türrahmen erschien.

 

»Nun hör aber mal auf!«, entrüstete sie sich.

 

»Aber er schleckt sie alle an!« Ein leicht hysterischer Ausdruck war auf Lars` Gesicht erschienen. Er erntete einen mitleidigen Blick von Annika, die sich seufzend an Lars vorbeischlängelte und den Stapel Sammlerhefte direkt vor Linus auf den Tisch platzierte. Der Junge hörte sofort auf zu schreien, lachte hell auf und klatschte begeistert in die Hände, bevor er sich ans Werk machte. Lars quollen bei dem Anblick seiner geliebten Hefte in Linus` wurstigen Fingern fast die Augen aus dem Kopf.

 

Als Linus endlich wieder still war und zufrieden in Lars wertvollen Heften blätterte, räusperte Stig sich und tippte auf den Text in seiner Hand.

 

»Lässt man den Unsinn mit dem Lindwurm und dem Fenriswolf weg, dann könnte die Geschichte unseren Sturm hier mit nachfolgenden Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Tsunamis beschreiben«, sagte er nachdenklich.

 

»Ganz genau!«, rief Jonas. »Das war es, was ich damit sagen wollte. Was ist, wenn Charlie nun tatsächlich in einer anderen Welt war? Was ist, wenn ihre Reisen und diese seltsamen Zeitunterschiede etwas in Gange gesetzt haben? Etwas, das unsere Welt aus dem Gleichgewicht gebracht hat?«

 

»Und ein Berg ist schon explodiert«, sagte Annika mit schwacher Stimme. Jonas nickte.

 

»Nun hört aber mal auf!«, explodierte Ove neben Jonas. »Glaubt ihr ihm etwa seine haarsträubende Geschichte? Ein Mädchen das zu anderen Welten reist! Also wirklich! Stig!«, wandte Ove sich an Larsson. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

 

Stig hob die Augenbrauen.

 

»Unter normalen Umständen nicht«, sagte er langsam. »Aber …«

 

»Was aber?«, platzte Ove der Kragen. Der Polizist ließ sich von der Entrüstung seines Vorgesetzten nicht beeindrucken.

 

»Es ist so«, begann er und wählte seine Worte mit Bedacht, »dass dieses Mädchen, Charlotta Johansson, eine seltsame Vergangenheit hat, Ove. Sie ist ein Findelkind und bis heute weiß niemand, wo sie hergekommen ist.« Ove schnaubte verächtlich.

 

»Ich wohnte damals in Lillby und ich war einer der Polizisten, die als erster vor Ort waren. Ich führte auch die Voruntersuchung, bis uns der Fall von oberster Stelle entzogen wurde und alle Beteiligten zum Schweigen verdonnert wurden.« Oves Interesse war endlich geweckt. Seine kleinen, wachen Augen sahen Stig überrascht an, während sein Walrossbart auf und ab wippte.

 

Jonas musterte Stig Larsson mit einer seltsamen Vorahnung.

 

Was wusste Stig über Charlie, das nicht einmal ihre Pflegeeltern Per und Lena erfahren hatten?

 

Jonas wusste lediglich, was Per ihm erzählt hatte. Charlie war an einem Sommertag in der Badeanstalt von Lillby gefunden, und ihre leiblichen Eltern waren niemals ermittelt worden. Per hatte sich oft gefragt, wer wohl solch ein wunderbares Baby einfach aussetzte.

 

»Als mich der Notruf erreichte, dass in der Badeanstalt von Lillby ein Baby gefunden worden war, hatte ich ja keine Ahnung, was mich erwartete. Das Ganze wurde als geheim eingestuft.« Stig zögerte.

 

»Was ist nun? Raus mit der Sprache«, drängte Ove ungeduldig. Stig räusperte sich.

 

»Also gut. Es war gegen 5.30 Uhr morgens. Zwei Poolarbeiter, Sven Svensson und Johann Pettersson, hatten den Notruf getätigt. Es war neblig und kühl, als ich in der Badeanstalt ankam. Die beiden Männer wirkten verstört und wollten den Wagen mit dem Kind darin nicht anrühren. Ich sah sofort nach dem Baby. Es lag in einer altmodischen Holzkiste auf einem Tierfell. Ich schätzte die Kleine auf etwa ein halbes Jahr, und offenbar war sie bei bester Gesundheit und schlief selig. Also verhörte ich die beiden Poolarbeiter. Sie erzählten, dass die Kiste direkt vor ihnen aus dem Nichts gerollt war. Sie sei aus dem Nebel gekommen und einfach an ihnen vorbeigerollt. Beide Männer hatten sofort die Umgebung abgesucht, aber niemanden entdecken können. Und die Männer waren nicht betrunken oder unter Drogeneinfluss. Das bestätigte ein von mir persönlich angeordneter Bluttest! Doch das Seltsamste kommt ja erst noch. Die Kiste, in der das Kind lag, sowie das seltsam fließende Seidenhemdchen und das Tierfell wurden nach der Untersuchung beschlagnahmt. Es handelte sich offenbar um Material, das nicht von der Erde stammt. Nur ein steinerner Anhänger wurde wieder herausgegeben. Er sollte dem Kind später ausgehändigt werden.«

 

Jonas Augen weiteten sich.

 

»Ein weißer Stein mit roten Linien. Charlie hatte genau diesen Stein bei sich und sie behauptete, dass er ihr das Reisen zwischen der Erde und diesem Planeten Godheim ermöglicht. Durch den Nebel!«, rief er.

 

In das darauffolgende Schweigen ertönte plötzlich Stig‘ Stimme.

 

»Ich muss mal telefonieren«, sagte er.

 

»Das gibt’s doch nicht«, entfuhr es Annika. »Sie haben es gerade im Radio bekanntgegeben: Der Sturm hat Kanadas Küste erreicht!« Oves Walrossbart wippte in rasender Geschwindigkeit.

 

»Schnell! Das Radio! Hierher!«, befahl er mit hochrotem Gesicht.

 

Nur eine halbe Minute später standen alle angespannt lauschend um das kleine, uralte Radio herum, das knisternd seine Botschaft verkündete:

 

»Der Sturm und somit auch Schnee und Eis haben Amerika erreicht. Die Welt sieht machtlos zu, wie haushohe Tsunamis über die Küstengebiete hinwegrollen und ganze Länder in ihren Fluten versinken lassen. Uns erreichen nur lückenhafte Berichte, doch offenbar hat es Grönlands Küste bisher am Schlimmsten getroffen. Aber auch Island, Neufundland und Labrador sind betroffen. Kilometerweit hat sich das Meer ins Landesinnere ergossen – es kommt einer Sintflut gleich. Außerdem liegen uns Berichte darüber vor, dass vor kurzem der Vesuv und die auf Island liegenden Feuerberge Katla und Hekla ausgebrochen sind. Ihre Lavamassen bringen den gerade erst gefallenen Schnee zum Kochen. Enorme Wolken von Wasserdampf mischen sich mit den giftigen Gasen aus den Vulkanen und ziehen mit dem Sturm um den Erdball. Die Folgeschäden sind nicht abzusehen. Wenn die Quelle für diese Katastrophe nicht bald ermittelt wird, dann sieht es für unseren Planeten nicht gut aus, sagt der Geologe Pâl Christiansen von der Universität Stockholm. Gemäß seiner Einschätzung könnte es sogar bereits zu spät sein, da die Naturkatastrophen eine verheerende Kettenreaktion zur Folge haben könnten.« Der Radiosprecher fuhr fort, doch auf der Polizeiwache in Storby starrten mit Ausnahme von Linus alle auf Jonas, der sich über seine Glatze strich.

 

»Ragnarök!«, hörte man es plötzlich flüstern.

 

 

 

 

 

 

2 Immer noch Hausarrest

 

 

 

 

 

Menes sauste auf seinen bereits erstaunlich stabilen Beinchen im Zimmer umher und gab brabbelnde, fröhliche Laute von sich, die ab und an von mehr oder weniger verständlichen Worten, wie »Mama«, »da« und »Sasa« – was Sora heißen sollte – abgewechselt wurden. Seine Mutter Juno, eine kleine, sehr zierliche Person, mit ausdrucksvollen grünen Augen unter langen geschwungenen Wimpern, hatte alle Hände voll tun, ihn vor Schaden zu bewahren – im wahrsten Sinne des Wortes. Juno gehörte der Kaste der Unparteiischen an, die an ihren Glatzen und den sechs Fingern an jeder Hand zu erkennen waren. Darüber hinaus hatte die junge Frau, wie alle Einwohner des Planeten Euripides, einen im Verhältnis zu Menschen viel zu großen Kopf und vier Arme, was dem Ausdruck »alle Hände voll« eine neue Perspektive verlieh. Menes‘ Vater, Archimedes, war ebenfalls Euripide und gehörte zur Kaste der Archäologen. Er besaß zwar ebenfalls vier Arme, doch davon waren zwei seiner Kaste entsprechend angepasst – sie glichen einem Spaten und einer Spitzhacke. An den beiden normalen Händen hatte er nur fünf Finger. Er saß zu Junos Füßen und betrachtete seinen Sohn mit einem vergnügten Gesichtsausdruck, während er sich von dem grünen Gebräu nachschenkte, das allgemein als Kafes bezeichnet wurde. Seine beiden aus erdenmenschlicher Sicht abnormen Arme benutzte er gleichzeitig dazu, seinem agilen Sohn den Weg abzuschneiden. Menes versuchte nämlich zum x-ten Mal an ihm vorbei zur Tür zur rennen. Dort hatte er etwas Spannendes im Türrahmen erblickt: Das Kontrollpanel.

 

»Wir sollten vielleicht doch eine Kindersperre einprogrammieren«, sagte Sora stirnrunzelnd und betrachtete ihr Patenkind, das gerade einen neuen Durchbruchversuch unternahm. Dieses Mal versuchte er einen Umweg um Sora, die ihn jedoch kopfschüttelnd abfing.

 

»Was für ein kleiner Sturkopf«, murmelte sie und begann, den kleinen Mann durchzukitzeln. Er wehrte sich laut und glucksend mit allen vier Händen gleichzeitig, was es Sora nicht ganz einfach machte, seine kitzeligen Stellen zu erwischen.

 

Juno lehnte sich lächelnd zurück ohne damit aufzuhören liebevoll die sechs Finger einer Hand durch Archimedes‘ langen schwarzen Haare zu ziehen. In der zweiten Hand hielt sie eine Tasse dampfenden Kafes, während die übrigen zwei ständig in Menes Nähe blieben.

 

Vier Arme können schon recht praktisch sein, dachte Sora, während sie den lachenden Menes aus ihrer Kitzelattacke entließ. Allerdings besaß auch Menes vier Hände, die alles in ihrer Nähe ergriffen und am liebsten in den Mund nehmen würden …

 

Archimedes erhob sich und war mit zwei Schritten an der Tür. Er berührte den Türrahmen, der daraufhin zu leuchten begann. Ein Menü erschien.

 

»Bei uns zu Hause gibt es so ein Kinderschutz-Programm, aber hier?«, sagte er stirnrunzelnd und begann auf dem Touchscreen herumzutippen. Seine katzenähnlichen Augen huschten über den Schirm, die Tür erwachte zum Leben und gab einen großen Bildschirm frei. Menes hüpfte aufgeregt auf und ab, als die Projektion eines Mannes erschien, der mit Archimedes sprach. Es ging um die Möglichkeit einer Kindersperre für den Touchscreen. Soweit Sora es mitbekam, versprach der Mann sobald wie möglich vorbeizukommen, um das Problem aus der Welt zu schaffen.

 

Weitere Augenpaare verfolgten Menes‘ Treiben vom hinteren Ende des großen Raumes. Eigentlich waren Tora und Charlie die Hauptdarsteller an diesem Tag, doch der kleine Junge stahl ihnen mit seiner unbekümmerten Art etwas die Show. Dann gab es auch noch Ragnar. Sora warf ihm einen amüsierten Blick zu und strich sich ihre halblangen, dunkelblonden Haare aus dem Gesicht. Ihre braunen Augen glänzten wie Bernstein im Sonnenlicht, das durch das runde Fenster in der abgerundeten Wand fiel. Sie trug ein sandfarbenes Sommerkleid, das an manchen Stellen in rötlichbraun wechselte und ihren weiblichen, jedoch schlanken Körper vorteilhaft umspielte. Ragnar, der zuvor einen recht eigentümlichen, fast abwertenden Blick gehabt hatte, wurde weich bei Soras Anblick.

 

Seine Zuneigung war kaum zu übersehen, denn in Soras Nähe wurde der eigenbrötlerische und eigensinnige Wolf zu einem zahmen Hund, so dass Tora seufzend die Augen verdrehte – allerdings nur, wenn die offensichtlich Verliebten es nicht sehen konnten. Tora gönnte Sora und Ragnar ihre Gefühle von ganzem Herzen, nur dass die Beiden noch nicht zueinander gefunden hatten, das war ihrer Meinung nach nur einen Seufzer wert.

 

Worauf wartete Ragnar? Ein Blinder konnte doch sehen, dass Sora seine Gefühle erwiderte.

 

Tora warf ihren langen, dick geflochtenen Zopf nach hinten, schüttelte seufzend den Kopf und griff sich noch ein Stück des saftigen, aromatischen Früchtekuchens. Sie biss genüsslich hinein und beobachtete fasziniert, wie Juno es schaffte gleichzeitig Kafes einzuschenkten, Menes daran zu hindern, sich einen Stift in den Rachen zu spießen, sich über ihren kahlen Kopf zu streichen und dabei auch noch Charlie eine volle Tasse Kafes zu reichen.

 

Mit Kuchen und Kafes feierten sie in der Wohnung von Archimedes und Juno Charlies und Toras Geburtstage. Bei beiden kam das heutige Datum eigentlich nicht ganz genau hin – Charlie kannte ihr exaktes Geburtsdatum ohnehin nicht – doch heute passte es den wenigen Freunden, die sie auf Euripides hatten, am besten. Sowohl Tora, als auch Charlie wurden in diesem Monat fünfzehn Sommer. Beide hatten sich ihren Geburtstag anders vorgestellt. Wenn sie überhaupt eine genaue Vorstellung gehabt hatten, dann saßen sie darin ganz bestimmt nicht auf einem Planeten namens Euripides mit Hausarrest fest. Nun war aber genau dies der Fall. Und beide hätten sich niemals träumen lassen, dass es solch einen Ort überhaupt gab. Obwohl Charlies Heimatplanet Erde dieser hypermodernen Welt zumindest etwas näher kam als Toras naturbelassene, aber dafür magische Welt Godheim. Und obwohl Sora schon bei ihrem Treffen auf Godheim einiges über Euripides erzählt hatte, war es doch etwas vollkommen anderes, diese tatsächlich mit eigenen Sinnen zu erleben. Euripides war ein extrem fortschrittlicher Planet, auf dem Wissenschaft und Technik regierten. Der Planet kreiste in einem Dreifachsystem um die größte der drei Sonnen und wurde von zwölf Monden umgeben. Die Intervalle der Bahn auf Euripides in Bezug auf die drei Sonnen ergaben ein regelmäßig wiederkehrendes Muster, das in abwechselnden Trocken- und Regenperioden mündete. Diese dauerten jeweils ziemlich genau drei Monate lang. Die Temperatur auf Euripides sank nie unter 15 Grad, in Sonnenzeiten lag die Durchschnittstemperatur bei 30 bis 35 Grad. Der Hitzerekord war bei 51 Grad gemessen worden. In diesem stabilen, feuchtwarmen Klima gediehen die seltsamen Gewächse. Obwohl es in der Regenzeit sehr schwül war, kam das kühlende Nass nach drei Monaten Hitze wie eine Erlösung. Doch es verhielt sich umgekehrt genauso: Nach drei Monaten Regen lag für die Euripiden die Erlösung in der Trockenheit.

 

Euripides war nach einem Mann benannt worden, der etwa 400 Jahre vor einem anderen Mann namens Jesus gelebt hatte. Euripides glaubte nicht an Götter. Seine Sympathien lagen beim Menschen selbst und ihrem Kampf für ein anständiges Leben. Euripides war ein Schriftsteller gewesen, der in seinen Stücken den Menschen selbst illusionslos schilderte, mit all seinen Schwächen. Doch einige Menschen, die das Zeichen für die Rune Lagaz trugen, wehrten sich gegen einen neuen Namen. Sie nannten den Planeten nicht Euripides sondern nach alter Überlieferung weiterhin Vanaheim.

 

Anfänglich hatte es diverse Religionszweige auf Euripides gegeben. Denn auch ein Gelehrter glaubte damals an irgendetwas. Doch bald hatten die nicht zu bremsende Wissenschaft und ihre Ansichten überhandgenommen, und die Religionen waren nach und nach in Vergessenheit geraten. Nachdem nichts mehr die Wissenschaft aufhielt, war der Fortschritt nicht mehr zu bremsen gewesen. Alles war erlaubt, solange jeder, der an der jeweiligen Forschung teilnahm, auch einverstanden war. So lautete das ungeschriebene Gesetz, das natürlich immer wieder gebrochen oder umgangen wurde. Euripides eilte jedenfalls in eine ungebremste, hochentwickelte Zivilisation. Den Euripiden war allerdings nicht mehr bekannt, wie alles begonnen hatte, und hier lag nun das Problem.

 

Laut den eigenen wissenschaftlichen Erkenntnissen sollte Euripides etwa 300 nach Christus von der Erde aus besiedelt worden sein. Wie und weshalb, war bis vor kurzem ungeklärt gewesen. Doch nun wusste man durch den fremden Besuch, dass die Euripiden tatsächlich erst im 15. Jahrhundert von der Erde geflohen waren. Vermutlich aufgrund von Hexenverfolgungen zu jener Zeit – Magie und Wissen waren auf der Erde damals offenbar nicht sehr gut angekommen.

 

Dem Ganzen lag etwas zugrunde, das allerdings tatsächlich im Jahr 300 nach Christus geschehen war. Zu dieser Zeit lebte ein mächtiger Magier, der die Nebelreisen entdeckte – oder wieder entdeckte, denn Magier waren - laut diverser Legenden aus vielen Kulturen – schon früher durch den Nebel gereist. Mit Hilfe einiger weiterer mächtiger Magier öffnete dieser Mann 300 Jahre nach Christus ein Nebeltor in eine andere Welt. Viele flohen damals, denn zu jener Zeit lebte in Rom ein Kaiser namens Konstantin, der den verhängnisvollen Entschluss fasste, das gesamte römische Reich unter einer Religion zusammenzufassen. Mit diesem Entschluss besiegelte er das Schicksal eines ganzen Menschenschlages, zu dem auch Konstantin selbst gehörte – den der Magier. Denn er war nicht nur Heide, er war ein Raidho, ein Magier der vier Elemente, doch in allererster Linie war er ein machtbesessener Mensch. Obwohl er Heide war – wie auch viele andere Magier – wählte er als vereinende Religion das Christentum, da es sich für seine Zwecke hervorragend eignete. Es war eine Religion in der es nur einen Gott gab – eine Religion, die bis dahin eher einer kleinen Sekte geähnelt hatte. Konstantin hatte einen Traum gehabt, in dem er sich unter einem Christuszeichen siegen sah. Also setzte er all seine Macht daran, diese Religion für seine Zwecke auszunutzen. Konstantin war ein listiger Mann. Sein Reich drohte aufgrund von kontroversen Religionen zu zersplittern – und so schuf er aus den damals durchaus sehr verschiedenen Richtungen des Christentums eine neue Religion – seine Religion. An die Spitze dieser Religion setzte er die Kirche, der er eine entsetzliche Macht verlieh. Das Ziel: Alle Gläubigen mussten davon überzeugt werden, dass der einzige Weg zur Erleuchtung über die etablierte, heilige Institution der römisch-katholischen Kirche ging – koste es, was es wolle. Konstantins Motiv war Machtstreben, und er verfolgte alle, die sich ihm widersetzten – auch alle anderen Magier – mit brutaler Konsequenz.

 

Janus, war der Magier, der das Nebeltor öffnete. Ein gefürchteter Gegner Konstantins, der im Verborgenen handelte. Janus` Ziel war es, eine Welt zu schaffen, in der alle Menschen willkommen waren. Eine Welt, in der der freie Wille zählte und jeder seinem Glauben oder seiner Überzeugung folgen konnte. Dafür wählte Janus eine Welt weit fort von der Erde, denn die Möglichkeit, ein Paradies auf Erden zu erschaffen, erschien ihm unmöglich. Doch Konstantin vermutete hinter Janus` Plan eine Verschwörung. Wer sagte ihm, dass dieser Mann nicht gestärkt zurückkehren würde, um ihn, Konstantin, zu stürzen? Also tötete er Janus, als dieser ihm den Rücken zukehrte.

 

Nun war der Weg in die neue Welt versperrt. Und es sollte einige Zeit vergehen, bevor es wieder jemandem gelingen würde, ein Nebeltor zu öffnen. Erst im 15. Jahrhundert sollte es wieder einer Gruppe Magier gelingen, viele Tore zu vielen Welten öffnen. Doch sie konnte die Welt nicht finden, die Janus‘ Anhänger besiedelt hatten. Janus‘ Volk blieb verschollen – die Menschen, die als erstes von der Erde auswanderten – der Verlorene Stamm.

 

Nicht alle Welten waren für Menschen bewohnbar, also entschied sich diese Gruppe Magier für eine Welt Namens Godheim. Dieses Mal waren es Magier aus der ganzen Welt und nicht nur aus dem römischen Reich, die sich auf eine Zukunft freuten, in der Magie eine natürliche und von allen akzeptierte Gabe sein sollte – eine Zukunft in Freiheit und nach eigenen Gesetzen. Es gab aber auch eine Gruppe, die den Weg der Wissenschaft wählte. Diese Gruppe beschloss, einen eigenen Planeten zu besiedeln. Es waren ausschließlich Wissenschaftler, Gelehrte und ihre Familien, die von einer Magierin namens Idun begleitet wurden. Idun stellte die Verbindung zu den anderen Welten sicher, denn Nebelreisen war nur durch Magie möglich. Magie und Wissenschaft wollten sich künftig ergänzen und voneinander lernen.

 

In einer logistischen Meisterleistung betraten die Menschen mit magischen Fähigkeiten aus allen Ecken der Welt an einem einzigen Tag und zu einem vorbestimmten Zeitpunkt die Welten Godheim und Euripides. Unter ihnen befanden sich auch Kendra und Leviathan. Doch das ist eine andere Geschichte, die bereits erzählt wurde.

 

 

 

Durch ein Ereignis, 517 Jahre nach der Besiedelung Godheims durch rein magische Menschen und der Besiedelung Euripides durch Wissenschaftler, ging aber der ursprüngliche Plan einer Koexistenz von Wissenschaft und Magie verloren. Verantwortlich dafür war ein Zeitriss, ausgelöst von einem Magier namens Altair. Er hatte ein Amulett in drei Teile zerbrochen, um die Erben der alten Zeit – Charlie und Sora – vor Odens grausamer Machtübernahme in Sicherheit zu bringen. Oden rottete damals beide vorherrschenden Königsfamilien aus, Norath und Argeria. Seit jener Zeit verliefen die Zeiten zwischen den Planeten unterschiedlich schnell. Auf Godheim und Euripides raste die Zeit förmlich vorwärts. Es waren fast 15.000 Jahre vergangen, während auf der Erde bisher gerade einmal 14 verstrichen waren! Dieser Zeitriss hatte eine fatale Folgen: Nebelreisen zwischen den Planeten war nicht mehr möglich gewesen. Dadurch hatten sich auf Godheim und Euripides zwei Welten mit Kulturen entwickelt, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

 

Für die Geschichte der Euripiden war der Umstand wichtig, dass ihre Vorfahren nicht durch Technik, sondern mit Hilfe von Magie in diese Welt gebracht worden waren. Eine Tatsache, die für den Hohen Rat von Euripides und die meisten Wissenschaftler schwer zu verdauen schien. Immerhin bauten die Zivilisation der Euripiden und die gesamte Gesellschaft in ihrer Form und Lebensweise auf Wissenschaft, Technik und Fortschritt auf.

 

Die Zeitrechnung auf Euripides beginnt im Jahre ihrer Ankunft. Mittlerweile schrieb man das Jahr 15077. In all dieser Zeit, bis auf die ersten Jahrhunderte der Anpassung, in der Iduns Einfluss verblasste, ging man allgemein davon aus, dass Wissenschaft und Technik das Volk in seine neue Heimat gebracht hatten. Man vertrat die Ansicht, dass das Wissen über diese Technik lediglich verloren gegangen und somit wieder zu finden war. Tausende Jahre hatte man vergebens nach einer Möglichkeit gesucht das System der drei Sonnen zu verlassen. Man hatte viel erreicht. Die zwölf Monde von Euripides waren alle besiedelt worden, doch das Sonnensystem hatte man nicht verlassen können. Noch nicht, denn es war nach allgemeiner Auffassung nur eine Frage der Zeit. Und nun stellten die Ankömmlinge aus einer anderen Welt das Weltbild der Euripiden völlig auf den Kopf! Man stelle sich vor, es gab niemals solch eine Technologie! Welche Kraft sollte die Euripiden in Zukunft antreiben? War es sinnvoll, weiter nach einer Lösung zu forschen? Wenn Magie existierte und viel kraftvoller war, als die Macht der Wissenschaft, auf welcher Basis existierte und florierte diese dann? Der Hohe Rat von Euripides war in eine Sinnkrise geraten. Es machte sich Unmut breit. Die einzige Quelle der unglaublichen Nachricht über die wahre Geschichte von Euripides waren die Worte Soras gewesen. Ihre Begleiter beteuerten und stützten ihre Worte, doch wo waren die Beweise?

 

Es gab ein Beweisstück. Es gab einen grün schimmernden, elfengeschmiedeten Dolch, der sich in ein Schwert verwandeln konnte und auf dessen Schwertblatt man lesen konnte wie auf den Blättern eines Buches. In diesem Buch der Familien hatten die Reisenden die Wahrheit über die Geschehnisse vor so vielen Tausenden von Jahren erfahren. Doch von diesem Schwert und somit auch von diesem Buch wusste der Hohe Rat nichts. Die Gemeinschaft der Reisenden - zu der Charlie und Biarn, die Geschwister Tora und Kunar sowie Sora und der Thul Ragnar gehörten - war sich darüber einig geworden, dieses Buch geheim zu halten, was in Anbetracht ihrer Situation durchaus verständlich war. Der Stein – Soras Teil eines Amulettes – hatte das Nebeltor nach Euripides geöffnet. Dieser Stein war auch die einzige Möglichkeit, diese Welt wieder zu verlassen. Doch genau dieser Stein war nun in den Händen der Euripiden, weil Sora eine rechtmäßige Bürgerin von Euripides war und allen Gesetzen des Planeten unterlag. Dazu gehörte auch, dass ihr Eigentum, wenn es dem Allgemeinwohl dienlich war, auch von der Gemeinschaft beschlagnahmt werden konnte. Der Stein war Sora gleich nach ihrer Ankunft aufgrund einer Verfügung abgenommen worden und wurde nun vermutlich Tag und Nacht eifersüchtig von Anaximedes bewacht, einem ehrgeizigen und skrupellosen Wissenschaftler Die Reisenden argwöhnten , dass die Euripiden auch den Dolch an sich nehmen würden, wenn sie von dessen Existenz erfuhren – obwohl die Besucher keine Bürger von Euripides waren und somit nicht enteignet werden durften. Um genau zu sein, wussten die Euripiden natürlich, dass es einen Dolch gab – Ragnar trug ihn stets an seinem Gürtel – doch die Bedeutung war ihnen glücklicherweise verborgen geblieben - und das sollte auch bis auf weiteres so bleiben.

 

Würde die Existenz des Buches hilfreich sein, die Reisenden aus ihrer Lage zu befreien? Archimedes - der einzige Euripide, der von dem Buch wusste – war der Ansicht, dass es nicht viel zur Sache beitragen würde, da ja jeder, also auch vielleicht die Reisenden selbst, es verfasst haben könnten. Wer sagte ihnen, dass das Geschriebene auch der Wahrheit entsprach? Gab es nicht genügend frei erfundene Geschichten? Archimedes teilte die Ansicht, dass dieses Buch ein Schatz von unermesslichem Wert war, der ihre Hände keineswegs verlassen durfte. Es barg noch so viele Geheimnisse. Sie hatten erst das erste Kapitel gelesen – die Geschichte, die zur Geburt der Euripiden sowie der Bewohner Godheims geführt hatte. Doch das Buch barg ungeheure Mysterien, die sie bisher nur erahnen konnten. Denn es war nicht nur ein Buch, sondern eine ganze Bibliothek – magisch an ein Schwert gebunden, das sich in Ragnars Dolch verbarg. Ein Dolch geschmiedet von Schwarzelfen auf Godheim.

 

 

 

Ragnar stand am Fenster und starrte über die Wolkendecke zu einem Raumhafen hinüber. Ein Raumschiff, groß wie ein Bergturs - ein gigantischer Troll aus Jotunheim - senkte sich mit blinkenden Lichtern aus dem Blau des Himmels herab. Das Schiff näherte sich geräuschlos, doch die Kraft des Antriebes brachte den Turm zum Schwingen, in dem sie seit fast einem Monat lebten. Eine luxuriöse Wohnung über der Wolkendecke, ein Gefängnis - ein Käfig, den sie nicht verlassen durften. Hausarrest! So nannten die Euripiden diesen Zustand. Nun, Ragnar musste zugeben, dass es durchaus angenehmer war, als ein Aufenthalt im Gnipahâl – Asgârds Kerker in den Tiefen von Odens Burg – doch für einen freien Mann wie ihn, war es trotzdem eine Tortur.

 

Das Zittern erreichte seinen Höhepunkt. Noch einige Sekunden schwebte das Raumschiff frei über der enormen, glänzenden Plattform, dann drehte es sich langsam in die vorgeschriebene Landeposition und setzte mit einem Brummen – es war eher zu spüren als zu hören - auf. Der Turm vibrierte noch stärker und gab Ragnar das Gefühl von innen durchgerüttelt zu werden – sozusagen auf Zellniveau. So hatte sich dieser seltsame Euripide namens Archimedes jedenfalls ausgedrückt, als er sie vom Wissenschaftszentrum, hierher begleitet hatte, bewacht von Euripiden aus der Kaste der Spürhunde.

 

Hausarrest!

 

Ragnar holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Als er gerade zum zweiten Mal tief einatmete, legte sich eine warme, zierliche Hand auf die seine. Sora lächelte Ragnar an. Sie drückte noch einmal seine Hand, bevor sie plötzlich erschrocken aufschrie und sich beide Hände vor den Mund schlug.

 

»Was ist?« Alle Augen im Raum waren auf Sora und Ragnar gerichtet. Tora eilte zu ihnen ans Fenster.

 

»Was ist denn?« Toras Augen suchten die Welt außerhalb des runden Fensters ab. Dabei starrte sie ahnungslos direkt durch einen enormen Drachen hindurch, dessen Schuppen - für Sora und Ragnar vollkommen sichtbar - im Sonnenlicht wie schwarze, rote und blaue Edelsteine funkelten.

 

»Äh, nichts«, sagte Sora und ließ ihren Blick zwischen dem Drachen und Ragnar hin- und hergleiten. Ragnar betrachtete Sora mit einer Mischung aus Spannung und Belustigung. Tora schüttelte enttäuscht den Kopf und starrte noch einmal genau durch den Drachen hindurch. Ragnar unterdrückte ein Lachen und sah den Drachen fragend an.

 

»Ähm, ich habe mich wohl verguckt … Ich dachte doch tatsächlich … das Raumschiff … äh …« Sora suchte vergeblich nach einer vernünftigen Erklärung, doch jeder im Raum ging wieder zur Normalität über, als wäre nichts geschehen. Sora starrte den Drachen an, auf dessen Rücken eine winzig kleine Schwarzelfe saß - wie ein Pickel im glänzenden Meer von Edelsteinen. Während Tora seufzend den Raumhafen mit all seinen seltsamen und unglaublichen Raumfähren, Lichtern, Plattformen und Türmen betrachtete, versuchte Sora der Schwarzelfe so etwas wie: »Später, jetzt nicht!«, zu bedeuten. Ragnar kratzte sich unauffällig am Bart und machte dann eine eindeutige Bewegung am Hals, die unmissverständlich ausdrückte, dass es jetzt nicht passte. Die kleine Elfe nickte verstehend und plötzlich war der Drache samt Elfe wieder verschwunden.

 

»Es ist unglaublich, dass so etwas Riesiges so hoch über den Wolken existiert«, sagte Tora gerade mit einer Handbewegung aus dem Fenster hinaus, dort wo der Drache soeben verschwunden war. Sora und Ragnar starrten Tora entgeistert an. Während Sora mühsam um Fassung rang, nickte Ragnar zustimmend. Er war auf einmal sichtlich besserer Laune und ließ sich nun gerne von Tora in ein Gespräch über den enormen Raumhafen mit all seinen Wundern verwickeln. Sora schüttelte innerlich den Kopf, doch sie konnte Ragnar gut verstehen.

 

 

 

Endlich tat sich etwas. Endlich zeigte sich eine Möglichkeit, dieses Gefängnis in naher Zukunft zu verlassen. Doch, was dann? Ohne das Amulett saßen sie hier auf Euripides unwiderruflich fest.

 

Plötzlich klopfte es an der Tür. Archimedes zuckte erschrocken zusammen, denn er war immer noch dabei gewesen, den Touchscreen auf dem Türrahmen zu quälen. Ohne Erfolg. Nun trat er beiseite. Die Tür wurde von außen geöffnet und Sapfo trat ein.

 

Die Schwangerschaft stand der jungen Ärztin gut. Sie schien von innen heraus zu leuchten. Sapfo nickte den vor der Tür Wache stehenden Spürhunden freundlich zu und sagte etwas in einer Sprache, die Sora als Neu-Euripides bezeichnete.

 

»Sapfo!«, rief Archimedes erfreut aus und zog sie in seine vier Arme. Er gab ihr einen hastigen Willkommenskuss auf die Wange und schleuste sie dann gekonnt an Junos und Menes’ acht Armen vorbei in Soras Richtung.

 

»Galenus hat leider heute Bereitschaft im Zentrum«, setzte Sapfo zu einer Erklärung an und holte eine kleine Box aus ihrer Tasche, die sie zwischen Kuchen und Tellern auf dem Tisch platzierte. »Doch er hat mir schnell noch etwas vorbeigebracht. Geschenke!«, verkündete sie und öffnete die Box mit einem leisen Klicken. Es lagen fünf Spritzen darin.

 

»Wo sind Kunar und Biarn?«, fragte Sapfo und sah sich noch einmal im Zimmer um. Es war ein geräumiger Gemeinschaftsraum, gemütlich und dem allgemeinen Standard entsprechend eingerichtet. Außer diesem Raum besaß die Wohnung noch eine kleine Küche, ein Badezimmer und drei Schlafräume, die zurzeit jeweils von Tora und Kunar, Biarn und Ragnar und Charlie und Sora bewohnt wurden. Wie auf Kommando öffnete sich eine der Türen und Biarn trat ein. Seine grünen, etwas schräg sitzenden Augen flogen durch den Raum und blieben dann mit einem missbilligenden Ausdruck an der kleinen Box mit den Spritzen hängen.

 

»Wie ich sehe, hat Sapfo etwas wirklich Nettes mitgebracht.« Er rümpfte seine etwas zu groß geratene Nase und schob die markante Kieferpartie vor. »Ein wirklich hübsches Geschenk«, spöttelte er. Sapfo lachte fröhlich auf.

 

»Ja, ich freue mich auch dich zu sehen, Biarn«, sagte sie und zückte die erste Spritze. »Wer will zuerst?«

 

Charlie sprang hastig auf die Beine.

 

»Ist es das, was ich glaube?«, fragte sie aufgeregt und fegte sich ihre mittlerweile sehr langen und widerspenstig gewordenen Locken aus dem Gesicht. Biarn sah Charlie ungläubig an.

 

»Hast du nicht gesagt, dass du diese Dinger nie wieder sehen willst?«, fragte er irritiert. »Was ist mit Ich habe für alle Zeiten genug von Spritzen geworden?« Charlie winkte ungeduldig ab.

 

»Das ist etwas ganz anderes! Du wirst schon sehen.«

 

Sora war inzwischen herangetreten und stellte sich neben Sapfo.

 

»Ah, es ist also bewilligt worden«, nickte sie zufrieden.

 

»Japp«, sagte Sapfo. »Eine Geste des guten Willens. Der Hohe Rat ist der Meinung, dass wir diese technische Errungenschaft gerne mit unseren Besuchern teilen können.«

 

»Besucher ...«, brummte Ragnar sarkastisch. Er hatte sich hinter Sora gestellt und blickte ihr nun skeptisch über die Schulter. »Bei uns nennt man es Gefangene.«

 

Sapfo überhörte Ragnars Kommentar absichtlich, wusste sie doch, dass er im Grunde genommen Recht hatte. Sie hatte – genauso wenig wie alle anderen – nicht die geringste Ahnung, wie all dies weitergehen sollte.

 

»Also?«, fragte sie noch einmal. »Wer ist mutig genug?« Ihr Blick streifte bei diesen Worten Ragnar, dann wandte sie sich amüsiert an Charlie. »Wenn ich richtig verstehe, dann war es dein Geburtstagswunsch? So ist es doch, Sora?«

 

Sora nickte kurz. Charlie krempelte inzwischen ihren Ärmel hoch, doch sie wurde von Biarn gehindert, der sie am Arm gepackt hatte.

 

»Ich wünsche eine Erklärung!«, stieß er scharf hervor. Charlie verdrehte die Augen.

 

»Entspann‘ dich«, sagte sie. »Es ist völlig ungefährlich, das hat Sora mir versichert. Du wirst es gleich verstehen. Bitte.«

 

Biarn sah abwechselnd in Charlies grünes und ihr blaues Auge. Hier auf Euripides brauchte Charlie ihre Besonderheit nicht zu verstecken. Eine Locke war ihr ins Gesicht gefallen. Biarn hob seine Hand und strich sie zärtlich zur Seite. Dabei lächelte er spitzbübisch. Bei der Berührung kribbelte es ganz gewaltig in Charlies Magengegend, und ihr Herz schlug schneller. Sie spürte, wie sie ungewollt ihren Schutz fallen ließ und Biarn dadurch erlaubte, seine empathischen Fähigkeiten einzusetzen.

 

»Du machst das mit Absicht!«, fauchte sie leise. Biarn lächelte. Er hatte erfahren was er wollte, Charlie wusste offensichtlich was sie tat.

 

»Du hättest mir auch einfach vertrauen können«, zischte sie verletzt. Biarn schwieg und grinste. Charlies Reaktion amüsierte ihn, weil sie vor nur wenigen Stunden das Gleiche mit ihm angestellt hatte. Nun hatte sie eine lehrreiche Retourkutsche erhalten.

 

 

 

Charlie und Biarn hatten vormittags alleine in der Küche beisammengesessen und sich über die Möglichkeiten einer Flucht unterhalten. Biarn hatte gespürt, dass Charlie nicht ganz bei der Sache war, denn sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl umher und betrachtete ihn verstohlen. Plötzlich hatte sie ihre Hand ausgestreckt und ihm eine seiner blonden Strähnen aus dem Gesicht gestrichen. Biarn trug sein langes, glattes Haar meist im Nacken zusammengebunden, und oftmals löste sich eine der Strähnen. Ihre Berührung traf Biarn wie heißes Feuer. Völlig überrumpelt bemerkte er viel zu spät, wie eine unsichtbare Macht in sein Bewusstsein glitt und seine Gefühle las. Er ließ es geschehen und betrachtete Charlie dabei sehr aufmerksam. Er sprach erst, als sie fertig war und sie ihren Blick niederschlug.

 

»Du hättest mich auch einfach fragen können.« Dieser einfache Satz ließ Charlie feuerrot anlaufen.

 

»E … E … tut mir leid«, stotterte sie verlegen hervor. Biarn ergriff ihre Hand, bevor Charlie sie entziehen konnte.

 

»Es ist verwirrend, nicht wahr?«, fragte er sanft. Charlie schwieg. Es war ihr unendlich peinlich.

 

Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

 

Aber das war das Problem. Einen klaren Gedanken zu fassen war in Biarns Gegenwart so furchtbar schwierig geworden, seit sie sich darüber im Klaren war, dass sie in ihn verliebt war. Und obwohl Biarn kein Geheimnis daraus machte, dass er ihre Gefühle erwiderte, war sie so unsicher.

 

Was, wenn er sie doch nicht so sehr mochte? Was, wenn sie ihn mehr liebte als er sie? Was, wenn er es gar nicht ernst meinte?

 

Es gab in ihrem Kopf derart viele Was und Wenns, dass sie fast daran erstickte.

 

Sie hatte solche Angst!

 

Angst mit ihren Gefühlen allein zu sein, Angst verletzt zu werden, Angst plötzlich von ihm zu hören, dass er es gar nicht so gemeint hatte und dass sie ihn vollkommen missverstanden hatte, Angst nur einen mitleidigen Blick zu ernten. Sie wusste nicht, wie sie es ertragen sollte, wenn er sie nur voller Mitgefühl für ihre kindischen, unerwiderten Gefühle betrachten würde. Charlie war zum ersten Mal verliebt und wusste nicht damit umzugehen.

 

Sie versuchte ihre Hand seiner zu entziehen. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Und einen Moment lang überlegte sie ernsthaft durch Magie ein Loch in den Boden zu sprengen, durch das sie verschwinden konnte. Aber nur einen ganz kurzen Moment lang, denn Biarn hielt ihre Hand ganz fest und lächelte sie warm an. Ihr Herz überschlug sich und sie begann zu hyperventilieren. Was sie in Biarns Sinnen gelesen hatte, ließ keinen Zweifel. Er liebte sie.

 

So einfach war das, und doch so kompliziert.

 

»Äh …«, brachte sie nur hervor. Biarn unterbrach ihren weiteren Versuch der Entschuldigung.

 

»Ich habe es schon länger vermutet«, sagte er. »Du bist eine Empathin. Meine Charlie ist eine werdende Raidho!« Charlies Kopf flog in die Höhe. Vergessen waren die peinlichen Gefühle und ihr Unvermögen, die richtigen, entschuldigenden Worte zu finden.

 

»Ich bin was?«, rief sie erschrocken aus. Biarn wirkte verwundert.

 

»Du musst es doch bereits erraten haben? Nur ein Raidho ist zu empathischen Kräften fähig.«

 

»Ich…. Äh …« Charlie hatte vergessen, dass sich ihre Hand in Biarns Hand befand. Regungslos saß sie da und versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Richtig, eigentlich hatte sie gewusst, dass Empathie mit Raidhokräften verbunden war. Doch bis gerade eben war ihr nicht einmal wirklich klar gewesen, dass ihre verstärkte Gefühlsantenne etwas mit Empathie zu tun haben könnte. Wie in Zeitraffer erlebte sie nun Ereignisse noch einmal, bei denen sie fast gefühlt hatte, was andere dachten. Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen …

 

»Empath! Ich habe empathische Kräfte! Deshalb fühle ich in letzter Zeit so oft, was andere denken.« Biarn nickte und schüttelte dann über Charlies Begriffsstutzigkeit den Kopf.

 

»Wie lange kennst du nun bereits die Anzeichen von empathischen Fähigkeiten? Wie oft hast du meinem Druck widerstanden?«, fragte er verwundert. »Und dann erkennst du diese einzigartigen Kräfte nicht wieder, wenn sie dir selbst widerfahren. Charlie, du bist einfach unglaublich!« Charlie verzog das Gesicht und entriss Biarn endlich ihre Hand. Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und schmollte vor sich hin.

 

Kurz darauf war Tora zu ihnen in die Küche gekommen und hatte fröhlich über irgendetwas daher geplappert.

 

Und nun stand Sapfo mit der Spritze bereit.

 

»Ich dachte, sie wären wieder völlig gesund?«, brummte Ragnar, der sich hinter Sora zu verstecken schien. »Ich bin es jedenfalls«, fügte er hinzu. Sora konnte die Wärme seines Körpers auf ihrem Rücken spüren und lehnte sich automatisch etwas zurück. Beide schienen sich seit einiger Zeit gegenseitig anzuziehen wie Magneten. Er war immer in ihrer Nähe, sie immer in seiner. Ragnars Aufmerksamkeit wurde gänzlich auf Soras Nacken gelenkt, und er widerstand nur mühsam dem Impuls, Soras samtige, helle Haut direkt am Haaransatz zu berühren. Einige dunkelblonde Strähnen waren aus ihrer unordentlich hochgesteckten Frisur gefallen. Ragnar hatte beim Frühstück verwundert und zugleich amüsiert betrachtet, wie Sora, während sie sich angeregt mit Charlie unterhielt, ihre langen, glatten Haare zu einem Knoten verdreht hatte und dann ganz einfach einen Bleistift hindurchgesteckt hatte.

 

Einfach, aber effektiv. So war sie. Sora – Prinzessin Soraya.

 

Er konnte es immer noch nicht ganz glauben, dass sie hier lebendig und aus Fleisch und Blut vor ihm stand.

 

Sapfo hatte bereits Charlies Arm gepackt und die Spritze angesetzt.

 

»Oh, natürlich«, murmelte sie konzentriert. »Selbstverständlich seid ihr wieder vollkommen gesund.« Charlie zuckte nur kurz, als die Nadel ihre Haut durchdrang, dann war es auch schon vorbei.

 

»Wer ist der Nächste?« Sapfo griff nach einer weiteren Spritze aus der kleinen Box.

 

»Wie lange dauert es und wie mache ich es überhaupt?«, fragte Charlie, die eingehend ihren Arm betrachtete.

 

»Nein!«, rief Tora plötzlich aus. Bei ihr schien der Odenstaler endlich gefallen zu sein. »Wirklich?« Sie kam näher und beugte sich über Charlies Arm. Charlie grinste und nickte. Toras Augen weiteten sich vor Aufregung.

 

»Kann uns endlich mal jemand erklären, was hier los ist?« forderte Kunar, dem es gar nicht gefiel, nicht den Überblick zu haben.

 

»Ich bin die Nächste!«, rief Tora und hielt Sapfo ihren Arm hin.

 

»Es dauert eine Weile, bis sich die Nanoteilchen im Körper verteilen, aber dann musst du es dir lediglich vorstellen. Mehr ist nicht nötig, um sie zu aktivieren«, beantwortete Sapfo Charlies Frage.

 

»Cool«, murmelte Charlie und fingerte immer noch an ihrem Arm herum. Sie knetete den Muskel.

 

»Es zieht ein wenig«, stellte sie stirnrunzelnd fest. Sapfo lächelte.

 

»Das geht gleich vorbei«, versicherte sie.

 

»Nanoteilchen?«, fragte Kunar plötzlich sehr interessiert. Archimedes, der die ganze Zeit über still die Szene beobachtet hatte, nickte.

 

»Ganz genau. Ich habe dir doch davon erzählt.«

 

Nun bekam Kunar große Augen. Doch bevor er etwas erwidern konnte, stieß Biarn einen überraschten Ruf aus. Ragnars Körper spannte sich wie eine Feder. In einer einzigen, fließenden Bewegung riss er Sora an sich.

 

»He!«, protestierte sie überrumpelt und brach dann in schallendes Gelächter aus. Charlie stand von Kopf bis Fuß feuerrot im Raum und grinste zufrieden. Sie sah aus wie eine Fackel: Haut, Haare, Augen, alles an ihr glühte in einem satten Rot. Sie drehte und wendete ihre Hände und betrachtete sich eingehend.

 

»Ein Spiegel? Ich brauche einen Spiegel!«, verkündete sie und hüpfte aufgeregt in den Flur, wo ein Teil der Wand aus zwei Meter hohem Spiegelgestein bestand.

 

»Echt irre!«, hörte man sie kurz darauf rufen. Biarn, Kunar und Ragnar starrten ihr erschrocken nach. Sora hatte sich vorgebeugt und hauchte Ragnar kichernd in den Nacken. Er bekam Gänsehaut.

 

»Danke, für die Rettung«, flüsterte sie leise. Ragnar wirbelt herum und stand ihr nun so nahe, dass ihre Nasen sich fast berührten. Er zitterte leicht und presste leise hervor:

 

»Immer. Für dich immer, Soraya!« Sora hielt den Atem an. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Zum Glück wurde die knisternde Spannung zwischen ihnen von Charlies Rückkehr unterbrochen.

 

»Das ist der Hammer«, kicherte Charlie. Sie war jetzt bunt. Alles an ihr sah aus, als wäre sie in einen äußerst farbenfrohen Malkasten gefallen.

 

Archimedes und Juno brachen in schallendes Gelächter aus, als ihr kleiner Sohn Menes Charlies bunte Erscheinung nachahmte. Ein helles Glucksen verriet, dass Menes das Kunterbunt fantastisch fand. Sapfo hatte mittlerweile Tora die Injektion verabreicht und sah sich nun fragend um. Kunar nickte grinsend.

 

»Ich glaube, ich bin der Nächste. Und es ist bestimmt ungefährlich?« Er warf einen fragenden Blick auf Archimedes, dessen wissenschaftlichem Urteil er offensichtlich am meisten Vertrauen schenkte.

 

»Absolut«, bestätigte dieser fröhlich und betrachtete liebevoll seinen kleinen Sohn, der nun blinkte wie eine Leuchtreklame und dabei fröhlich glucksende Laute von sich gab.

 

»Wir Euripiden haben alle diese Nanotechnologie in unserem Körper. Es schützt unsere Haut in den Sommermonaten vor den gefährlichen Strahlen der drei Sonnen.«

 

»Und uns ermöglicht es, unerkannt durch Godheim zu reisen«, verkündete Tora, die nun mit schwarzen, langen Haaren und dunkelbraunen Augen sowie schokoladenbrauner Haut dastand. »Wir können problemlos unsere Augenfarbe jeweils Vanaheim oder Godheim anpassen, und eine veränderte Haut- und Haarfarbe ist eine hervorragende Tarnung.« Zufrieden betrachtete sie ihre schokobraune Haut und wendete ihren schwarzen Zopf hin und her. »Echt Thors Hammer«, ahmte sie Charlie in einer gekonnten Imitation nach. Alle lachten und Charlie verkniff es sich, Toras kleinen Fehler richtig zu stellen.

 

»Thors Hammer« klang doch auch gut, vielleicht sogar treffender.

 

Nach Charlies und Toras Vorstellung waren auch die anderen Mitglieder der Gemeinschaft von den Vorteilen der Nanoteilchen-Injektion überzeugt. Sie ließen sie sich mehr oder weniger willig – Ragnar brummte dabei äußerst skeptisch vor sich hin – von Sapfo eine Spritze verpassen.

 

Sie hatten noch eine Weile ihren gemeinsamen Spaß mit ihren neuen Fähigkeiten, bevor Juno und Archimedes sich mit ihrem heftig protestierenden Sohn verabschiedeten. Sapfo ließ sich mit einem Seufzer in einen gemütlichen Sessel fallen und strich sich verträumt lächelnd über den Bauch. Sie war schwanger, das wussten Charlie und die anderen, doch noch war nicht viel zu sehen. Sapfo war erst im vierten Monat und hätte vor einem Monat fast ihr Baby verloren. Doch nun schien sie gesund. Die Probleme waren offenbar unter Kontrolle. Sapfo fing Soras Blick auf, die ihre Freundin etwas besorgt beobachtet hatte.

 

»Alles in Ordnung«, beschwichtigte Sapfo immer noch verträumt. »Ich habe mir bei Menes Gebrüll nur gerade überlegt, ob du wohl meiner Bitte nachkommst, oder ob du dich schon als seine Patin ausreichend ausgelastet fühlst.« Sie grinste, als Sora erstaunt die Augen aufsperrte.

 

»Du meinst ...«, begann Sora unsicher. Sapfo nickte.

 

»Würdest du uns die Ehre erweisen und für unser Kind ebenso da sein wie für Menes?«, fragte sie. Dann verdrehte sie die Augen. »Ich verstehe natürlich, wenn …«, begann sie in leicht belustigtem Ton. Sora war aufgesprungen.

 

»Aber natürlich, mache ich das!«, rief sie überwältigt. Man sah ihr an, wie sehr sie sich freute, so dass Sapfo jegliche Bedenken sofort fallen ließ.

 

»Schön, dann wäre das ja geklärt«, sagte sie nachdrücklich. »Und nun zu weniger erfreulichen Dingen. Es geht um das Amulett.« Sapfo erhielt sofort ungeteilte Aufmerksamkeit.

 

»Lass mich raten«, sagte Sora sarkastisch. »Anaximedes rückt es nicht wieder raus!«

 

Sapfo nickte verärgert.

 

»Er lässt nicht einmal mich einen Blick darauf werfen! Dein Amulett ist zur Zeit einer der am besten bewachten Gegenstände auf ganz Euripides. Ich habe noch nicht einmal in Erfahrung bringen können, ob Anaximedes irgendwelche neuen Erkenntnisse gewonnen hat. Anaximedes wacht wie Hades’ dreiköpfiger Hund über sein Team. Alle sind so eingeschüchtert, dass sie sofort die Flucht ergreifen, wenn ich auch nur in ihre Nähe komme. Heute ist sogar Domitian vor mir aus der Cafeteria geflohen, nur weil er seit Neuestem dem Team Getränke bringt. Dieser hinterhältige kleine Giftzwerg von Anaximedes! Seine Schadenfreude ist einfach unerträglich.« Sapfo hatte sich in Rage geredet. »Seine Schweinsaugen verfolgen mich auf Schritt und Tritt, sobald ich nur einen Fuß in das Wissenschaftszentrum setze. Und das Schlimmste ist«, sie schlug mit den Armen aus, »er hat auch noch das Recht auf seiner Seite! Vesta vom Hohen Rat hat mir ausdrücklich mitteilen lassen, dass die Erforschung des Amuletts für unser Volk von großer Bedeutung ist.«

 

»Aber«, fiel ihr Sora ins Wort, »nur mit unserer Hilfe wird er etwas erfahren. Da bin ich mir ganz sicher. Außerdem sollst du dich nicht so aufregen«, fügte sie mit einen Blick auf ihren Bauch hinzu. Sapfo verdrehte wieder die Augen und seufzte.

 

»Ja, ja«, murmelte sie in sich hinein.

 

»Das heißt also, dass wir auf die freundliche Art so schnell nicht an das Amulett herankommen«, mischte sich Biarn ein.

 

»Das ist korrekt«, bestätigte Sapfo. »Allerdings ist mir schleierhaft, wie man auf die unfreundliche Art an das Amulett herankommen könnte. Es zu stehlen ist unmöglich«, sagte sie mit einem nachdrücklichen Blick auf Sora. »Geht bitte kein unnötiges Risiko ein. Ein Fluchtversuch wäre schon von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wenn ihr hier herauskommen würdet, wäre jeder einzelne Spürhund von Alexandria euch sofort auf den Fersen. Und die Wachen im Zentrum würden umgehend informiert werden. Ihr hättet keine Chance dort hineinzukommen. Außerdem würdet ihr damit eure einzige wirkliche Möglichkeit verspielen, nämlich das Vertrauen der Euripiden zu gewinnen. Der Hohe Rat ist von Soras Verhalten sehr enttäuscht. Die neuen Kräfte des Amuletts zu verschweigen war in seinen Augen ein Vertrauensbruch. Nur durch neues Vertrauen werdet ihr irgendwann wieder in die Nähe des Amuletts gelassen.«

 

Charlie schüttelte den Kopf.

 

»Nein«, sagte sie entschieden. »Das dauert viel zu lange, soviel Zeit haben wir nicht. Oden greift bereits die Erde an. Je länger wir warten, desto mehr Macht erlangt er. Wir können hier nicht monatelang warten.«

 

Biarn nickte nachdenklich. Doch bevor er oder jemand anderes etwas sagen konnte versicherte Sora:

 

»Nein, wir starten natürlich keinen Fluchtversuch, Sapfo. Wie sollten wir an den Spürnasen vorbeikommen?«

 

Sapfo nickte und schälte sich aus dem bequemen Sessel. Charlie und Biarn starrten Sora überrumpelt an.

 

Hatten sie etwa nicht die gesamte letzte Woche damit verbracht, eine Fluchtmöglichkeit zu finden?

 

Sora war, genau wie alle anderen, der Meinung gewesen, dass Diebstahl wohl ihre einzige Möglichkeit sein würde, das Amulett in nächster Zukunft zu Gesicht zu bekommen. Sie hatte allen von Anaximedes und dessen Zielen berichtet und keinen Zweifel daran gelassen, dass er in jeder Hinsicht gegen sie arbeiten würde. Anaximedes hasste Sora, die ihm schon zweimal das Amulett unter der Nase weggeschnappt hatte. Beim ersten Mal legal, durch eine Entscheidung des Hohen Rates, und beim zweiten Mal durch ihre Flucht durch den Nebel nach Godheim, gerade, als er dem Stein zum Greifen nahe war.

 

Tora wollte gerade Soras Aussage in Frage stellen, doch Ragnar trat ihr heimlich auf den Fuß.

 

»Aua!«, quiekte sie. Als sie von allen Seiten angestarrt wurde, presste sie mit einem hastigen und nur für Freunde erkennbaren giftigen Blick auf Ragnar hervor:

 

»Ich habe mir auf die Zunge gebissen.«

 

Genau, dachte Charlie, im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Sapfo schnappte sich ihren Mantel.

 

»Ich muss wieder los. Galenus erwürgt mich mit allen vier Händen, wenn ich mich überanstrenge«, lächelte sie. SorasAugen blitzten schelmisch auf.

 

»Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, solch ein passioniertes Verhalten. Er hat doch damals kaum die Zähne auseinander bekommen«. Sapfo lächelte und nickte.

 

»Ja, wer hätte das gedacht«, stimmte sie Sora munter zu. Sie gab ihr einen schnellen Abschiedskuss auf die Wange, winkte einmal kurz in die Runde und verließ dann immer noch schmunzelnd den Raum.