Prolog
Ingrid Olafsson war verständlicherweise etwas nervös.
Man hatte ihr von dem Baby erzählt, das auf ein neues Zuhause
wartete. Für Ingrid war es nicht das erste und ganz sicher
auch nicht das letzte Kind, das sie auf seinem Weg durchs Leben
betreuen würde. Sie war Sachbearbeiterin beim Jugendamt und so
einiges gewohnt.
Doch dieses Mal lagen die Dinge etwas anders.
Es geschah natürlich öfters, dass sie wegen ihrer Schützlinge Kontakt
zur Polizei hatte. Mit dem Geheimdienst hatte Ingrid aber jetzt
zum ersten Mal zu tun.
Der kleine Raum, in dem sie nun wartete, war spärlich weiß möbliert.
Steril - dieses Wort fiel ihr dazu ein.
Kein Ort für Kinder.
Wie gut, dass sie bereits Pflegeeltern gefunden hatte. Die Johanssons
würden wunderbare Eltern abgeben, dafür hatte Ingrid über die
Jahre ein Gespür entwickelt. Ein warmherziges junges Paar, das keine
eigenen Kinder bekommen konnte.
Die weiße Tür wurde aufgerissen. Ingrid zuckte erschrocken zusammen.
Herein marschierte ein grimmig aussehender Mann mit einer
Akte in der Hand.
»Wo ist das Kind?«, entfuhr es Ingrid.
»Alles zu seiner Zeit«, wies der Mann sie zurecht.
Was denn noch?, dachte Ingrid. Sie musste doch bereits einen langen
Vortrag über Geheimhaltung über sich ergehen lassen. Und sogar
eine Geheimhaltungsklausel unterschreiben, bevor ihr zwei todernst
dreinschauende Beamte von den seltsamen Umständen erzählten, unter
denen das Baby gefunden worden war. Es sei buchstäblich aus dem
Nichts aufgetaucht, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, wer die leiblichen
Eltern seien, wurde ihr unter anderem erklärt.
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Der Beamte räusperte sich und reichte Ingrid die Akte. »Ich weise
Sie ein letztes Mal auf Ihre Verschwiegenheitspflicht hin«, brummte
er. Ohne Ingrids Reaktion abzuwarten fuhr er fort: »Die von Ihnen
ausgesuchten Pflegeeltern sind von uns bewilligt. Sie werden aber
nicht in den Fall eingeweiht.«
Ingrid nickte. Es gab eine offizielle Version bezüglich der Auffindung
des Kindes, die sie den Eltern erzählen durfte. Die entsprach aber nicht
den Tatsachen. Die Wahrheit stand in der streng geheimen Akte.
Zumindest die Wahrheit, die man ihr mitgeteilt hatte.
»In dieser Akte wird alles noch einmal genau erläutert. Von nun an
betreut ein Kollege von mir diesen Fall. Er wird selbstverständlich mit
uns Kontakt halten«, sagte der Beamte.
Selbstverständlich, dachte Ingrid und verkniff sich einen Kommentar.
Wie auf Kommando ging die Tür ein zweites Mal auf. »Darf ich
vorstellen: Stig Larsson!« Herein kam ein freundlich lächelnder Polizist,
den Ingrid sehr gut kannte.
»Stig, wie schön, ein sympathisches Gesicht zu sehen!« platzte es
aus ihr heraus.
Der Sachbearbeiter blickte säuerlich. »Wie nett, dass Sie sich bereits
kennen«, knurrte er. »Das erleichtert meine Arbeit ungemein.« Mit
diesen Worten verschwand er durch die Tür, ohne sich von Ingrid zu
verabschieden.
Stig zuckte amüsiert mit den Schultern. »Torbjörn ist wirklich reizend
«, grinste er.
»So heißt er also. Er hat sich bei mir nicht einmal vorgestellt!«, sagte
Ingrid empört.
Die Tür ging ein drittes Mal auf. Eine ältere Frau betrat den Raum.
Im Arm hielt sie ein Baby mit pechschwarzen Haaren. Es schlief selig
und wachte nicht einmal auf, als die Frau es Ingrid überreichte – das
Kind, das angeblich aus dem Nebel gekommen war.
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1. Die Akte Charlotta Johansson
Eine schmale Gestalt lag unter einer warmen Decke in einem
kleinen Zimmer in der südschwedischen Stadt Lillby und
lauschte angespannt hinaus in die Dunkelheit.
Jedes auch noch so kleine Geräusch erschien dem Mädchen unnatürlich
laut – wie das Ticken der Wanduhr im Zimmer nebenan und
das raschelnde Werkeln einer Maus irgendwo in der Wand am Fenster.
Ein dumpfes Gurgeln kam aus den veralteten Heizungsrohren und im
Flur konnte man die klickenden, tapsenden Schritte der Katze hören,
die nicht fähig war, ihre Krallen ordentlich einzufahren.
Jeder Laut für sich alleine war ausreichend, einen Bären aus seinem
Winterschlaf zu holen. So schien es ihr.
Charlie starrte jetzt mit weit aufgerissenen Augen in den dunklen
Raum, so als ob ihr die offenen, sehr außergewöhnlichen Sehorgane
beim Horchen behilflich sein konnten. Sie atmete leise und sehr flach.
Ihr durfte kein entscheidendes Geräusch entgehen.
Seit geraumer Zeit hatte es keinen verdächtigen Laut mehr gegeben
– kein verräterisches Husten, keine Schritte auf dem kalten Linoleumfußboden,
kein Umblättern von Seiten in einem Buch.
Sollte sie es jetzt wagen?
Der Rucksack lag tief unter dem Bett verstaut. Fertig gepackt mit den
wichtigsten Sachen, die sie brauchen würde – wie Kleidung, ein Foto ihrer
verstorbenen Eltern, ein wenig Schnur mit einem Angelhaken, eine
Landkarte, drei Feuerzeuge und die Taschenlampe. Außerdem hatte sie
ein Messer mit einem Griff aus Horn und einen Kompass dabei, die sie
von ihrem Vater bekommen hatte. Und das Buch Ronja Räubertochter
– das einzige, was Charlie von ihrer Mutter geblieben war.
Ungefähr 200 Kronen Taschengeld hatte das Mädchen gespart. Diese
lagen sicher in einer der kleinen Reißverschlusstaschen an der Seite
des Rucksackes.
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Und dann war da noch ihre Akte.
Charlie lief ein Schauer über den Rücken. Sie spürte, wie sich ihre
Nackenhaare sträubten. Die Erinnerung an ihr Zusammentreffen mit
diesem Johann Pettersson stieg in ihr hoch.
Charlie war mit Klassenkammeraden unterwegs gewesen. Es war
bereits spät am Abend, und Charlie hätte längst wieder im Heim sein
sollen, ihrem derzeitigen Zuhause. Sie widerstand dem Drang, auf
die Uhr zu sehen – wenn sie nicht wusste wie spät es war, konnte sie
immer noch behaupten, sie hätte die Zeit vergessen. Charlie zog eine
Grimasse. Sie wusste natürlich, dass sie sich selbst belog. Die Gruppe
Jugendlicher schlenderte über einen menschenleeren Spielplatz – eine
Schaukel knarrte im leichten Wind. Charlie grub ihre Hände tiefer in
die Jeanstaschen und blies sich eine schwarze Locke aus dem Gesicht.
»Hej, Tommy!«, rief Liam. Wie gefällt dir mein neuer Klingelton?
Liam fuchtelte mit einem Gerät in der Luft herum und hielt es unvermittelt
an Tommys Kopf. Das Geräusch eines Rasierapparats ertönte.
Man konnte förmlich hören, wie sich das Gerät durch die Haare fraß.
Tommy fuhr entsetzt zur Seite, stieß Liam von sich und fasste sich an
den Kopf. Hektisch fuhr er sich durch die Haare, Panik lag in seinen
blauen Augen. Die Gruppe brüllte vor Lachen, auch Charlie. Liam
schwenkte vergnügt sein Handy.
»Cool, was? Ich habe doch gesagt, es ist ein Klingelton!«, grinste er
und schlug Tommy auf die Schulter. Charlie sah wie Tommy um Fassung
rang. Jetzt auszuflippen, wäre absolut uncool. Tommy schaffte
ein gequältes Lächeln, bevor er sich wieder fing.
Auf einmal kam Ihnen ein Mann entgegen. Er hielt eine Flasche in
der Hand und torkelte betrunken quer über den Weg.
»Seht euch den an«, spottete Tommy und begann den etwa 50-Jährigen
nachzuahmen. Tommy musste nach der panischen Reaktion mit
dem Handy seinen Coolheits-Faktor auffrischen, also stolperte er mit
einer imaginären Flasche in der Hand von einer Seite der Gasse zur
anderen. Viele in der Gruppe lachten.
»Lass das«, fauchte Elin, die den Betrunkenen ängstlich beäugte.
Dieser war schlampig gekleidet, groß und kräftig gebaut. Seine dunklen
Haare hingen ihm fettig ins unrasierte Gesicht. Elin versuchte,
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Tommy an der Jacke zu packen, doch er entwischte ihr in einem weiteren
Anfall von gespielter Trunkenheit. Charlie sah, wie der Typ Tommy
wütend anstarrte. Bevor irgendjemand reagieren konnte, stürzte
sich der Mann vorwärts, warf sich auf Tommy und riss ihn zu Boden.
Die Flasche zerbrach in tausend Scherben. Charlie sah, wie sich Tommys
Augen vor Schreck weiteten, bevor er krachend auf dem Asphalt
aufschlug. Dann reagierte sie.
Sie rannte auf den Angreifer zu, der Tommy unter sich begraben
hatte wie ein Riese einen Zwerg. Liam und zwei andere Jungs folgten
ihr.
Der Mann rappelte sich mühsam auf und sah sich vier Jugendlichen
gegenüber, die wütend die Fäuste ballten. Tommy schnappte
hörbar nach Luft und rollte sich aus der Gefahrenzone. Er war blass
und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Seite. Elin eilte besorgt
zu ihm.
Der ungepflegte Riese grinste Charlie, Liam und die zwei anderen
an. Warmer, alkoholhaltiger Atem und der penetrante Geruch von altem
Schweiß stiegen ihnen in die Nase. Der Mann rülpste laut und
wischte sich mit einem dreckigen Handrücken über den Mund.
»Ihr kleinen Mistkerle. Ihr glaubt, ihr wärt was besseres, was?«,
zischte er und kam drohend näher.
»Los, kommt, wir hauen ab!«, rief Elin, die Tommy aufgeholfen
hatte und ihn nun beim Gehen stützte.
»Ich glaube, er hat mir eine Rippe gebrochen«, wimmerte Tommy
leichenblass. Liam wurde krebsrot im Gesicht.
»Das wirst du büßen! Wir zeigen dich an!«, brüllte er den Mann an.
Dieser schnaufte verächtlich.
»Ja, ja, die Polizei. Geht nur zur Polizei, die wird euch sicher helfen!
« Er machte noch einen drohenden Schritt auf sie zu. Alle wichen
zurück, außer Charlie. Irgendetwas hielt sie fest. Sie stand nun sehr
nahe vor dem Mann, der seinen Blick nun ganz auf sie allein richtete.
Er starrte ihr provozierend in die Augen und erstarrte. Seine Pupillen
weiteten sich, und eine Art Erkennen zeichnete sich auf seinem Gesicht
ab.
»Du!«, spuckte er hervor und schwankte einen Schritt rückwärts.
»Du…«, wiederholte er und sah Charlie an, als wäre sie ein Geist.
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Charlie lief ein Schauer über den Rücken. Sie kannte den Typ nicht.
Doch anstatt wegzulaufen, stand sie wie angewurzelt da. Ihr Herz raste.
Sie spürte etwas – eine Energie, eine Verbindung, einen glühenden
Faden.
Dieser Penner war wichtig! Aber wieso?
»Kenne ich Sie?«, fragte Charlie leise und sah dem Mann direkt in
die Augen. Er wich noch einen Schritt vor ihr zurück, Charlie machte
einen Schritt auf ihn zu. Der Besoffene machte eine abwehrende
Handbewegung.
»Diese Augen!«, flüsterte er und starrte Charlie fassungslos an.
»Nein, das kann nicht sein«, murmelte er weiter.
»Was kann nicht sein?«, fragte Charlie und ging einen weiteren
Schritt auf den Mann zu.
»Charlie, komm da weg!«, rief Liam, doch Charlie hörte ihn in ihrer
Erregung nicht. Sie folgte einem Gefühl.
Dieser glühende Faden, ein Band…
Charlie konnte das Band sehen, fühlen, spüren.
Was war hier los? Wer war dieser Mann?
Plötzlich trat ein böses Funkeln in die Augen des Betrunkenen. Mit
einer überraschend schnellen und sicheren Bewegung brachte er seinen
Arm hoch. Er packte Charlie am Hals – sie stand so nahe, dass er
sich dafür nicht einmal vom Platz bewegen musste – und zog sie nur
wenige Zentimeter vor sein nach Alkohol stinkendes Gesicht. Charlie
würgte. Panik stieg in ihr auf, doch sie brachte keinen Ton heraus. Der
glühende Faden lief nun über die Hand des Penners. Er verbrannte
ihre Haut – wie eine Schlinge legte er sich um ihren Hals.
»Du! Das Kind, das aus dem Nebel kam!«, stieß der Mann hervor.
Sein Gestank stieg ihr ungefiltert in die Nase.
»Niemand hat mir geglaubt! Sie haben mich für verrückt erklärt,
mich, Johann Pettersson! Niemand hat uns geglaubt. Mein ganzes Leben
zerstört! Wegen dir!« Er drückte noch fester zu. Charlie rang nach
Luft. Trotzdem wehrte sie sich nicht sondern wartete wie gebannt auf
mehr.
Was hatte er noch zu sagen?
Schreie ertönten um sie herum, jemand zerrte an ihrem Arm, trat
nach dem Mann.
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»Du kleine Hexe aus dem Nebel«, zischte der Betrunkene ohne sich
um Liam zu kümmern, der ihm nun am Hals hing.
»Was willst du hier bei uns?«, wisperte Johann Pettersson ganz nah
an ihrem Ohr. Charlie wurde schwindlig. Sie sah das glühende Band
noch deutlicher als zuvor. Sie fühlte es – heiß, erdrückend, unnatürlich.
Und plötzlich wurde ihr die Gefahr bewusst – sie bekam keine
Luft mehr! Sie begann sich zu wehren, machte sich stark. Das Band
pulsierte – brannte hell und explodierte unter den würgenden Fingern
des Mannes. Mit einem Schmerzensschrei ließ er Charlie los und
taumelte rückwärts. Er starrte sie entsetzt an. Dann kehrte der wissende
Ausdruck in seine Augen zurück:
»Hexe!«, zischte er noch einmal. Charlie wurde fortgerissen. Ihre
Klassenkameraden zogen, stießen, zerrten sie die Gasse hinauf. Ein
letzter Blick zurück zeigte ihr den Mann, der immer noch dastand und
ihr hinterher schrie.
»Hexe! Du gehörst nicht hierher!« Er hielt sich seine Hand – sie war
krebsrot.
Charlies Hals hatte hingegen keinen Kratzer abbekommen. Doch
das Ereignis hatte sie aufgewühlt.
Was war da nur geschehen?
Dieses glühende Band…
»Kanntest du den Typ?«, fragte Liam. Charlie schüttelte den Kopf.
»Der gehört ja in die Klapsmühle!«, wetterte er und wandte sich
dem verletzten Tommy zu.
Charlie lief schweigend neben den anderen her. Ihre Gedanken
kreisten. Sie war erregt. Die Begegnung mit Pettersson hatte etwas mit
ihrer Herkunft zu tun! Sie musste erfahren, was er gemeint hatte.
Ein leises Hüsteln und dumpfe Schritte im Flur rissen Charlie aus
ihren Erinnerungen. Jemand, vermutlich Camilla, die heute Nachtschicht
hatte, schlurfte in ihren rosa Plüschhausschuhen an der Zimmertür
vorbei. Vor der Tür verharrte die Nachtschwester horchend.
Charlie räkelte sich geräuschvoll, seufzte im vorgetäuschten Schlaf und
wälzte sich herum. Die Person auf der anderen Seite der Tür schlurfte
zufrieden weiter auf ihrem Weg zur Toilette. Das ließ sich nur kurze
Zeit später durch das Surren der Belüftung ausmachen, die sich auto16
matisch in Gang setzte, sobald jemand den Lichtschalter betätigte.
Charlie seufzte resignierend.
Camilla schlief also noch nicht.
Ihr angespanntes Warten und Horchen sollte wieder von vorne losgehen.
Anscheinend hatte Camilla ihre abendliche Kaffeeorgie wieder einmal
übertrieben. Charlie überlegte, ob sie ihren Plan nicht lieber ein
anderes Mal durchführen sollte – wenn, wie eigentlich geplant, Maria
Nachtschicht hatte. Maria schlief immer fest wie ein Fossil. Nichts und
niemand konnte ihre Nachtruhe stören. Leider war Maria krank, und
keiner wusste, wie lange sie das Bett hüten musste. Für Maria war jetzt
also Camilla eingesprungen. So ziemlich der schlimmste Ersatz, den
man sich vorstellen konnte – zumindest wenn man bei Nacht und
Nebel das Weite suchen wollte.
Also doch die Flucht verschieben?
Charlie verwarf diesen Gedanken schnellstens.
Viel zu riskant. Ingrid würde Verdacht schöpfen.
Ingrid konnte das Verschwinden der Akte Charlotta Johansson jederzeit
bemerken. Charlie musste ihr Glück heute Nacht versuchen.
Riskant hin oder her, irgendwann musste doch auch jemand wie Camilla
einschlafen.
Die Akte Charlotta Johansson.
Charlie dachte an den vergangenen Nachmittag zurück.
Anstatt nach der Schule den langen Weg durch die Stadt bis zu ihrem
jetzigen Zuhause zu gehen, hatte Charlie die breite Straße vor der Schule
überquert und war rechts in eine Gasse eingebogen. Mit gemischten
Gefühlen beobachtete sie von der nächsten Straßenecke aus das gelbe
Gebäude schräg gegenüber. Das Sozialamt. Menschen betraten und verließen
– allein oder paarweise – das wuchtige Gebäude aus Stein. Gemauerte
Häuser gibt es in Schweden fast ausschließlich in Städten. In
Wohnsiedlungen und auf dem Lande sind nahezu alle Villen und Häuser
aus Holz oder haben zumindest eine Holzverkleidung. Warum wurden
in den Städten Steinhäuser gebaut? Charlie hatte vorher noch nie darüber
nachgedacht. Sie ließ kurz, ganz kurz – um auch ja nichts zu verpassen
– ihren Blick umherschweifen. Die großen mandelförmigen Augen
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sahen sich um. Na gut. Einige der Häuser in dieser Gasse waren ebenfalls
aus Holz. Links stand ein blaues, großes Gebäude mit dunkelblauen
Fenstern, daneben ein weißes Haus mit Türmchen und weiter hinten
ein gelbes mit weißen Fenstern. Gelbe Häuser waren auch auf dem Land
oft zu finden. Meistens waren die alten Hütten und Häuser aber rot mit
weißen Fenstern und weißen Ecken und Kanten.
Jäh wurde Charlie aus ihren Überlegungen gerissen. Ihr sehniger, eher
jungenhafter Körper spannte sich wie eine Feder. Sie zog sich schnell
weiter in die Gasse zurück. Dabei ließ sie den Eingang zum Sozialamt
keinen Moment lang aus den Augen. Eine Frau trat heraus und bewegte
sich raschen Schrittes zu einem der parkenden Autos, einem alten Volvo,
stieg ein und fuhr zügig davon.
Das war für Charlie das Startsignal. Sie hatte eine halbe Stunde Zeit,
ehe Ingrid aus der Mittagspause zurückkehren würde.
Charlie schlenderte betont gleichgültig auf das Gebäude zu. Sie tat so,
als würde sie sich das Schaufenster des Juweliers neben dem Sozialamt
ansehen und wartete, bis kein Mensch im Vorflur zu sehen war. Dann
huschte sie schnell hinein. Sie hastete die steile Treppe hinauf, lugte um
die Ecke und schlich leise zu der Tür mit dem Schild Ingrid Olafsson,
Sozialarbeiterin und Sachbearbeiterin. Charlie atmete schnell. Vorsichtig
öffnete sie die weiße Holztür einen winzigen Spalt und spähte in
das kleine Büro. Bis auf einen vollgepackten Schreibtisch, einige Regale,
überquellend mit Akten und Ordnern, und einen Tisch mit zwei Stühlen,
war der Raum glücklicherweise leer. Charlie schlüpfte hinein und zog die
Tür leise hinter sich ins Schloss. Sie sah sich um.
Wo sollte sie bloß anfangen?
Sie hatte bereits eine Viertelstunde gesucht und aufgehört, bei jedem
kleinen Geräusch zur Eissäule zu erstarren, als sie endlich fündig wurde.
Eine Akte mit dem Namen Charlotta Johansson darauf. Charlie hielt
den schmalen Ordner eine Weile fest in beiden Händen.
Was würde sie darin finden? Die Wahrheit über ihre Herkunft? Irgendwelche
Geheimnisse oder nur eine Dokumentation ihres bisherigen
Lebens?
Gedankenverloren starrte Charlie auf die Akte in ihren schmalen
Händen. Sie war ein Pflegekind, das wusste sie. Und irgendetwas stimm18
te mit ihr nicht. Das hatte sie deutlich an den Blicken gemerkt, mit denen
Ingrid Olafsson sie musterte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Und
nun auch noch diese beunruhigende Begegnung mit diesem Johann Pettersson,
der irgendetwas zu wissen schien. Sie wollte endlich die Wahrheit
erfahren! Wer war sie? Und gab es vielleicht doch Hinweise auf ihre
leiblichen Eltern?
Schritte im Treppenhaus rissen Charlie aus ihrer Starre. Schnell legte
sie die paar Schritte vom Schreibtisch zur Tür zurück. Ein Umschlag fiel
aus der Akte, die sie in der Aufregung verkehrt herum gehalten hatte.
Sie öffnete die Tür einen Spalt breit und hörte für einen Moment auf zu
atmen. Wer da raschen Schrittes den Flur entlang kam, war niemand
anderes als Ingrid Olafsson!
Hatte sie so lange für ihre Suche gebraucht?
Charlies Kopf fuhr herum.
Sie musste sich irgendwo verstecken! Doch wo?
In diesem kleinen Büro gab es keine Möglichkeit, sich unsichtbar zu
machen! Charlie machte einen Schritt rückwärts, trat auf den Umschlag
und verlor beinahe die Balance. Nicht auszudenken, welchen Lärm es
gemacht hätte, wäre sie rückwärts in das Regal voller Akten und Ordner
gestürzt. Sie hob den Umschlag auf, stopfte ihn in die Jackentasche und
tauchte in Sekundenschnelle unter den Schreibtisch.
Die Klinke wurde herunter gedrückt und die Tür geöffnet. Da rief eine
helle Stimme: »Hallo Ingrid! Kommst du bitte gleich zur Besprechung ins
Konferenzzimmer? Wir haben das Meeting eine Stunde vorverlegt, weil
wir danach noch Annas Geburtstag feiern wollen!«
Charlie hörte Ingrid antworten:
»Ja selbstverständlich, Moment noch!«
Die Tür wurde sperrangelweit aufgerissen und Ingrid stürmte herein.
Sie warf eine Akte und eine Tasche auf den ohnehin schon überfüllten
Schreibtisch, griff nach einem Stift und einem Notizblock und verschwand
genauso schnell wie sie gekommen war. Charlie hatte nicht ein
einziges Mal während Ingrids Anwesenheit Luft geholt. Jetzt atmete sie
hektisch ein und aus, um das Schwindelgefühl wieder loszuwerden und
wischte sich mit dem Jackenärmel die Schweißtropfen aus dem Gesicht.
Sie horchte den sich schnell entfernenden Schritten im Flur nach, rappelte
sich mühsam auf und kroch unter dem Schreibtisch hervor. Den
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Aktenordner fest an sich gedrückt, die Jacke darüber gezogen, machte sie
sich so schnell wie möglich aus dem Staub.
Sie stolperte die Stufen hinunter, stieß die schwere Glastür auf und
prallte dort mit einem dicken, älteren Herren zusammen, der mit seinem
Bauch voran das Sozialamt betreten wollte.
Charlie murmelte hastig »Entschuldigung...« und sauste davon. Zwei
Straßen weiter lehnte sie sich schwer atmend an eine Hauswand. Ihre
schwarzen Locken fielen ihr wirr über Schulter und Rücken. Sie zitterte
am ganzen Körper und unterdrückte ein glucksendes, hysterisches Kichern.
Den Ordner aber hatte sie immer fest an sich gedrückt gehalten.
Ingrid Olafsson.
Bei dem Gedanken an ihre Sozialarbeiterin beschlich Charlie wieder
das Schuldgefühl, welches sie auch am Nachmittag auf dem Sozialamt
gespürt hatte. Ingrid, ihre Ingrid, die so viel für sie getan hatte.
Mit neun Jahren, war Charlie in die dritte Klasse derselben Schule
gegangen, die sie heute Vormittag, fünfeinhalb Jahre später, wohl zum
letzten Mal besucht hatte. Damals war sie ein ganz normales, fröhliches
junges Mädchen gewesen. Ein Mädchen, das gerne mit Freunden
spielte, durch den Wald streifte, Strick und Paradies hüpfte und
mit Murmeln Geschicklichkeitswettbewerbe gewann. Ein Mädchen,
das das Leben mit allen seinen Schwierigkeiten und Möglichkeiten erlebte
– in sicherer Gewissheit, dass alles schon irgendwie funktionieren
und am Ende immer gut ausgehen würde.
Für den guten Ausgang sorgten nur allzu oft ihre Eltern, die immer
für sie da waren. Ihre Eltern, die sie bedingungslos liebten, sie
beschützten und gegebenenfalls dem Lehrer erklärten, dass Charlotta
es bestimmt nicht böse gemeint hatte: Sie wäre nur in ihrem Übermut
wieder einmal über das Ziel hinaus geschossen, sie habe sich auch
schon bei allen Beteiligten entschuldigt. Und abgesehen davon wäre es
ja auch nicht so furchtbar schlimm, seinen Namen in den Schnee zu
pinkeln. Jungs machten dies ja ständig. Nun, sie würden die Tatsache
ja einsehen, dass Charlie ein Mädchen sei und kein Junge, aber Charlie
hätte ja nicht wissen können, dass ein Elternpaar der an der Geschichte
beteiligten Jungs ihren nackten Hinterteil hatte sehen können. Sie
wollte ja bloß beweisen, dass Mädchen alles tun können, was Jungs so
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tun. Diese Jungs hätten Charlotta nun mal eben nicht herausfordern
sollen.
Kurzum: Charlie war ein Wildfang mit viel Temperament. Sie gehörte
zu jenen Mädchen, die nicht nur vom Körperbau her eher jungenhaft
aussehen – abgesehen von ihren langen schwarzen Locken
– sondern auch bei Spiel und Spaß ein eher robustes Verhalten an den
Tag legen.
Trotz ihres Temperaments hatte Charlie das Herz am rechten Fleck.
Sie nahm Schwächere – ob Menschen oder Tiere – in Schutz, wenn sie
der Meinung war, dass Hilfe benötigt wurde. Wie jedes Kind hatte sie
Vorlieben und auch Dinge, die sie hasste, wie Hausaufgaben, Lakritz
und Fußball.
Am liebsten ritt sie auf ihrem Isländer durch die schwedischen Wälder
und begleitete ihren Vater Per zum Off-Road – das war seine große
Leidenschaft gewesen. Er und sein bester Freund Jonas nutzten jedes
freie Wochenende, um auf einem großen, extra dafür vorgesehenen
Gelände mit ihren selbst gebauten Geländewagen über Stock und Stein,
durch matschige Tümpel und über steile Hänge zu brettern.
Per ließ Charlie oft ans Steuer. Seit sie über das Lenkrad gucken
konnte – anfangs noch auf Pers Schoß – konnte Charlie ein Auto lenken.
Später lernte sie auch Kuppeln, Bremsen und Gas geben. Per erzählte
jedem, der es hören wollte, wie außergewöhnlich talentiert seine
Charlie mit dem kleinen Jeep umgehen konnte. Dass sie dabei jedes
Mal dreckbespritzt, bis auf die Knochen durchnässt und mit Matsch
verschmierten Haaren nach Hause kamen, störte Vater und Tochter
wenig. Mutter Lena besaß ja eine Waschmaschine.
Charlie war also ein ganz normales schwedisches Kind.
Na ja, vielleicht nicht ganz. Die meisten Menschen in Schweden haben
blonde Haare, blaue Augen und helle Haut. Einige haben auch
dunkle Haare – aber glänzend schwarze Locken, wie Charlie sie hatte,
waren für gebürtige Schweden eher ungewöhnlich. Doch das Seltsamste
an Charlotta Johanssons Erscheinung war nicht ihr Haar, auch
nicht ihr blasses, längliches Gesicht oder ihr sehniger Körper. Nein,
das Merkwürdigste an ihr waren ihre Augen. Sowohl deren Mandelform
als auch deren Farben waren es, die jeden erstaunt, fasziniert
und ungläubig zweimal hinsehen ließen.
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Charlies rechtes Auge war hellblau. Nicht ungewöhnlich für Schweden,
oder ein anderes skandinavisches Land. Aber ihr linkes Auge war
grün. Ein tiefes, dunkles, kräftiges Grün. Der Kontrast zwischen dem
hellblauen und dem dunkelgrünen Auge war so scharf und aufsehenerregend,
dass er niemandem entging, der Charlie auch nur kurz anblickte.
Und alle schauten sie an. Immer wieder, denn Augen mit zwei
verschiedenen Farben sind äußerst selten.
Per und Lena waren blond und blauäugig. Typische Schweden
eben. Dass sie nicht Charlies leibliche Eltern waren, war Charlie bekannt,
solange sie sich zurückerinnern konnte. Sie war als Baby zu den
Johanssons in Pflege gekommen.
Ingrid Olafsson hatte das schwarzhaarige Kind bei Per und Lena
untergebracht und Charlie hatte sich niemals gewünscht, andere Eltern
zu haben. Natürlich hatte sie irgendwann wissen wollen, wo sie
herkam und wer ihre richtigen Eltern waren. Per und Lena hatten ihr
die Papiere gezeigt, die sie bekommen hatten, und ihr erklärt, dass
sie an einem warmen Julitag in der Badeanstalt unter einem Baum
gefunden worden war. Niemand wusste, wo sie herkam oder wer sie
dort abgelegt hatte – und niemand hatte je nach dem schwarzhaarigen,
etwa fünf bis sechs Monate alten Baby gefragt oder einen Hinweis
auf dessen Herkunft geliefert. Das Findelkind wurde Charlotta
genannt und erhielt den Nachnamen ihrer Pflegeeltern Per und Lena
Johansson.
Charlotta Johansson wuchs gut behütet und beschützt bei zwei
liebevollen Menschen auf. Ihr fehlte es an nichts, und sie hätte sich
im Traum nicht vorstellen können, dass sie sich eines Tages sehr, sehr
einsam und verlassen fühlen würde. Ihr Leben war geordnet gewesen
– bis zu diesem Sonntag kurz nach ihrem neunten Geburtstag.
Sie konnte sich an kaum etwas erinnern: Nur daran, dass sie und
ihre Eltern mit ihrem Volvo auf der Nachhausefahrt waren, als es
passierte. Und an den entsetzten Aufschrei ihrer Mutter. Als nächstes
war ihr im Gedächtnis geblieben, dass sie in einem hellen Zimmer
mit weiß bezogenen Betten aufwachte. Ihr Schädel brummte, sie
hatte Schwierigkeiten sich zu orientieren und einen klaren Gedanken
zu fassen. Die Stunden danach lagen wie in einem dichten Nebel. Jemand,
vermutlich ein Arzt, erklärte ihr, sie sei in einen Unfall ver22
wickelt gewesen. Dann wechselte er den Verband an ihrem Kopf. Sie
müsse sich ruhig verhalten, denn mehrere Knochen seien gebrochen.
Draußen warte eine Frau namens Ingrid Olafsson, er würde sie gleich
hereinlassen, fügte er hinzu.
Ingrid berichtete ihr dann unter Tränen, dass Per und Lena bei dem
Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Ein Reh war ihnen vor
das Auto gelaufen. Per hatte nicht mehr rechtzeitig bremsen können.
Sie waren vom Weg abgekommen und frontal gegen einen Baum
geprallt. Charlie dachte zuerst, sie hätte einen schrecklichen, sehr realistischen
Albtraum.
In den darauf folgenden Wochen weinte Charlie viel. Als Ingrid ihr
eines Tages erklärte, sie müsse eine neue Pflegefamilie für sie suchen,
wurde dem Kind schlagartig bewusst, dass sie nun niemanden mehr
hatte. Nicht einmal Jonas, der beste Freund ihrer Eltern, der sich nach
dem Unfall rührend um sie kümmerte, konnte ihr aus ihrer Einsamkeit
helfen.
Er hätte Charlie nur allzu gerne zu sich genommen. Doch leider
waren ihm nach der Trennung von seiner Partnerin Britta ein riesiger
Berg Schulden sowie die Erkenntnis geblieben, dass sie ihn mächtig
über den Tisch gezogen hatte. Um über die Runden zu kommen, bewohnte
er seitdem eine Einzimmerwohnung bei einem Bekannten
auf einem kleinen Hof in der Nähe von Storby. Das Sozialamt war
verständlicherweise nicht der Meinung, dass die Einzimmerwohnung
eines Mannes, der Tag und Nacht arbeiten musste, um seine Schulden
abzubezahlen, der angemessene Wohnort für ein neunjähriges Mädchen
sei. Leider – und wirklich schade. Denn Jonas war die einzige
Person, die für Charlie einem Verwandten am nächsten kam.
Fünfeinhalb Jahre waren seitdem vergangen.
Charlie hatte in dieser Zeit erschreckend oft die Pflegefamilien und
damit die Schule gewechselt. Und obwohl sie immer rasch Freunde
fand, gehörten diese nach jedem Schulwechsel auch genauso rasch
wieder der Vergangenheit an. Das Sprichwort Aus den Augen, aus dem
Sinn, war hier leider nur allzu treffend. Es kostete Kraft, sich an eine
neue Familie, eine neue Schule und neue Lebensumstände zu gewöhnen
– eine Anstrengung, die sie vermied, indem sie von sich aus wieder
alle Brücken abbrach und nur nach vorne schaute.
23
Charlie streckte sich vorsichtig, schlug die warme Bettdecke zur
Seite und begann, sich leise anzukleiden. Sehr vorsichtig schlüpfte sie
in dunkle Jeans, schwarze Socken und in ein enges schwarzes Träger-
Shirt mit der Aufschrift Protected by Witchcraft. Sie hatte es sich wenige
Wochen zuvor von ihrem ersparten Taschengeld gekauft. Anna,
ihre letzte Pflegemutter, war darüber wenig begeistert gewesen. Sie
hatte ihr verboten, das T-Shirt zu tragen, und es ihr weggenommen.
Als Charlie in das Heim kam, erzählte sie Ingrid davon. Da das Gesetz
besagte, dass bei einem Wohnortwechsel sämtliches Eigentum eines
Pflegekindes mitzunehmen sei, bekam Charlie es zurück.
Über das Shirt zog sie einen dicken, warmen, dunkelroten Kapuzenpullover.
Sie lauschte noch einmal angespannt. Seit einer halben
Ewigkeit hatte sie schon nichts Verdächtiges mehr gehört. Ob Camilla
nun wirklich schlief oder nur lautlos in halbwachem Zustand vor sich
hin döste, wusste sie natürlich nicht. Aber sie musste davon ausgehen,
dass Camilla letztendlich doch ins Reich der Träume gedriftet war.
Ansonsten würde es Morgen werden und Charlie wäre immer noch
nicht auf und davon.
Nichts zu hören.
Lautlos fiel Charlie vor dem Bett auf die Knie und streckte sich nach
dem Rucksack. Vorsichtig zog sie ihn hervor. Nachdem sie ihre Jacke
zugeknöpft hatte, tauchte Charlie nochmals unter das Bett und fischte
ein Paar Schuhe heraus.
Sie wollte durch das Fenster verschwinden. Die Haustür war zu riskant.
Sie blickte sich noch ein letztes Mal um und schulterte den Rucksack.
Leise öffnete Charlie das einzige Fenster im Raum. Es führte zum
hinteren Teil des Gartens, so wie auch das Fenster des Personalschlafraumes,
das etwa fünf Meter rechts von ihr lag. Geschmeidig schwang
sie ihre schmale, sehnige Gestalt durch die enge Fensteröffnung und
landete sanft auf dem moosbewachsenen Rasen. Sie streckte sich, um
das Fenster wieder zufallen zu lassen. So würde man ihre Abwesenheit
möglichst spät bemerken, hoffte sie.
Der nächste Tag war ein Samstag. Da würde sie ausschlafen dürfen.
Das Personal würde irgendwann am Morgen leise die Tür öffnen, um
nach ihr zu sehen. Anita oder Camilla würden dann hoffentlich das
offene Fenster nicht sofort bemerken und sich von der dicken Woll24
decke täuschen lassen, die Charlie sorgfältig unter der Bettdecke drapiert
hatte. Sie würden sie dann wie üblich noch eine Stunde schlafen
lassen.
In einer Stunde konnte sie etwa sechs Kilometer weit kommen,
hatte sie sich ausgerechnet. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr,
dass es höchste Zeit war. Zwei Uhr nachts. Camillas Unruhe hatte sie
mehrere Stunden gekostet. Während Charlie sich an der Hauswand
Richtung Waldrand entlang schlich, rechnete sie nach.
Von zwei Uhr bis etwa acht Uhr, wenn sie Glück hatte bis neun Uhr
morgens. Sie hatte sechs bis sieben Stunden Vorsprung!
Im besten Fall. Maria ging immer gegen elf Uhr ins Bett und
schnarchte fünf Minuten später, dass sich die Balken bogen. Bei ihr
hätte Charlie drei Stunden mehr Zeit gehabt! Nun, daran war jetzt
nichts mehr zu ändern. Am Ende des Gartens zog sich Charlie hastig
an dem robusten Holzzaun empor, der das ganze Heim umgab,
und schwang dann ein Bein hinüber. Das zweite zog sie wie gewohnt
gekonnt hinterher. Auf der anderen Seite glitt sie vorsichtig hinunter
und schlug dann zielstrebig den Weg Richtung Wald ein. Das Heim lag
am Waldrand in der Baronessestraße. Die nähere Umgebung kannte
Charlie gut. Später würde sie die Landkarte zu Hilfe nehmen. Sie
wollte nachts auf Waldwegen in Richtung Norden wandern und sich
tagsüber in den dichten Wäldern Smâlands verstecken.
Hauptsache weg von hier, irgendwohin, wo sie keiner fand.
Niemals wieder wollte Charlie in eine Pflegefamilie. Sie hatte für
alle Zeiten genug von neuen Eltern. Sie lief nicht zum ersten Mal weg.
Doch dieses Mal würde sie keiner finden!
Der Mond war fast voll. Ab und zu leuchtete die helle Scheibe kraftvoll
zwischen den Wolken hervor. Das dunkle Grau der Nacht wechselte
dann zu einer helleren Färbung und ermöglichte eine schärfere,
aber dennoch farblose Sicht. Die Bäume warfen dunkelgraue Schatten
auf den Waldweg. Hie und da wechselten Rehe lautlos über den Pfad
und sogar ein Fuchs sah die schmale Gestalt erstaunt an, die dort einsam
des Weges schritt. Charlies Gedanken kehrten zu den Ereignissen
des Freitagnachmittages zurück.
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Nachdem sie sich von dem Schrecken erholt hatte und aufgehört hatte
zu zittern, war Charlie bewusst langsam davon geschlendert. Ungeduldig
war sie. Aber trotz ihrer Wissbegier konnte sie sich beherrschen. So wenig
wie möglich auffallen, lautete ihr Vorsatz. Im Stadtpark setzte sie sich bei
einem Spielplatz auf eine Bank und atmete tief durch. Dann öffnete sie
die Akte Charlotta Johansson.
Die erste Seite war ein Register. Unter Punkt 1 stand Persönliche Daten.
Sie öffnete diesen Teil und überflog ihn hastig:
Name: Charlotta Johansson
Geburtsdatum: genaues Geburtsdatum unbekannt
(Ja, das stimmte. Sie war jetzt ungefähr 14,5 Jahre alt)
Fundort: Badeanstalt Kullarna in Lillby
Bes. Kennzeichen: ein rechtes blaues und ein linkes grünes
Auge
Pflegeeltern: Per und Lena Johansson
Heim in Lillby
Lars und Carina Fredriksson
Heim in Lillby
Anders und Petra Söderholm
Heim in Lillby
Clara und Âke Ledin
Heim in Lillby
Anna Bengtsson
Heim in Lillby
Nichts Neues. Dass niemand genau wusste, wann sie zur Welt kam,
war ihr bekannt. Wie sollte man das auch wissen? Sie war an diesem
warmen Sonntag gefunden worden und niemand hatte gesehen, wie sie
dahin gekommen war. Lena hatte ihr erklärt, dass anhand ihrer Größe
und ihres Gewichtes ihr ungefähres Alter ermittelt worden war. Sie blätterte
zur ersten Seite zurück und überflog das Register.
2. Pflegeeltern – Daten, Ereignisse
3. Krankheiten-Behandlungen
(Na, da konnte ja nicht viel stehen. Sie war kerngesund.)
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4. Dokumentation
5. Finanzen, Abrechnungen, Pflegegeld u.a.
6. Fundtag
7. Schulische Leistungen, Zeugnisse
Ihr Finger schnellte zu Punkt sechs zurück. Hier standen Details zu
ihrem Auffinden! Hastig blätterte sie bis zu Punkt sechs vor: Es handelte
sich um einen Polizeibericht, der mit dem Tag ihres Auffindens datiert
war.
Polizeibericht
A) Zeitpunkt: Morgens 5:30 Uhr
Charlie hielt inne.
Morgens 5:30 Uhr? Es war doch strahlender Sonnenschein gewesen.
Das hatten ihr Per und Lena und auch Ingrid erzählt!
Sie las weiter:
B) Fundort: Kullarna Badeanstalt Lillby unter einem Baum
C) Fundstück/gefundene Person: Weiblicher Säugling, etwa fünf
bis sechs Monate alt
D) Beschreibung: Etwa 67 cm lang; schwarze, lockige Haare; rechtes
Auge blau, linkes Auge grün; bekleidet mit einem seidenähnlichen Gewand/
Kleidchen in schimmerndem Grün und Blau; keine Strümpfe
oder Schuhe
E) Umstände des Auffindens: Diese werden als geheim eingestuft
und sind nur der Polizei sowie dem/der zuständigen Sachbearbeiter/
in mitzuteilen.
Charlie riss erstaunt ihre Augen auf.
Geheim?
Aufgeregt las sie weiter.
Die offizielle Version
Fundzeitpunkt: Gegen Mittag
Umstände des Auffindens: Badegäste fanden an diesem warmen
27
Sommertag einen Säugling in einem Kinderwagen. Allem Anschein
nach war das etwa fünf bis sechs Monate alte Mädchen dort von seinen
Eltern oder einem Elternteil zurückgelassen/ausgesetzt worden.
Das Kind war bei bester Gesundheit. Niemand hat seit diesem Tag
ein Kind mit einer passenden Beschreibung als vermisst gemeldet
oder danach gefragt. Die leiblichen Eltern sind zu keinem Zeitpunkt
in Erscheinung getreten.
Ja, das war die Version, die Charlie kannte. Mit wachsender Spannung
blätterte sie weiter:
»Als geheim eingestufter Polizeibericht« stand in großen Buchstaben
auf dem nächsten Blatt Papier. Ansonsten war das Blatt leer. Weiß und
leer. Charlie blätterte zur nächsten Seite:
»Abschließender Bericht« stand hier ebenfalls in großen Lettern. Verwundert
blätterte Charlie zurück.
Und wo war jetzt der als geheim eingestufte Polizeibericht?
Verzweifelt blätterte sie vor und zurück. Sie war so nahe an der Wahrheit
dran! Und jetzt sollte sie doch nichts erfahren? Schnell überflog
Charlie die Seite. Sie hoffte hier auf einen Hinweis zu stoßen.
Abschließender Bericht:
Auch nach ausführlichen Untersuchungen und Bemühungen seitens
der Polizei, des Sozialamtes sowie des Einwohnermeldeamtes und
der Einwanderungsbehörde konnte keine plausible Erklärung für die
besonderen Ereignisse gefunden werden. Die derzeitigen Pflegeeltern
Per und Lena Johansson sind bereit, dem Findelkind Charlotta auch
weiterhin ein Zuhause zu geben. Dieses Arrangement wird solange
aufrechterhalten, bis entweder Per und Lena Johansson ihre Pflegeelternschaft
kündigen oder bis von Seiten der Behörde – aufgrund
neuer Erkenntnisse das Findelkind betreffend – ein neues Verfahren
eingeleitet wird.
Was für besondere Ereignisse? Was war da geheim?
Charlie blätterte wieder zu dem fast leeren weißen Blatt Papier zurück.
Sie hielt die Seite mit der Überschrift »Als geheim eingestufter
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Polizeibericht« zwischen ihren schmalen Fingern und starrte auf die feinen,
mit Schreibmaschine getippten Buchstaben.
Und was jetzt?
Plötzlich bemerkte Charlie, dass die Seite dicker war als die anderen
Blätter der Akte. Ähnlich dick wie das Registerblatt.
Waren die Seiten zusammengeklebt?
Charlie rieb das Blatt zwischen ihren Fingern hin und her.
Dann bemerkte sie es. Das Blatt war andersherum zusammen gefaltet,
so dass die Öffnung links lag. Eine Perforation hielt es zusammen wie ein
Siegel. Sie war anscheinend noch nie geöffnet worden. Charlie trennte
vorsichtig die Perforation auf und dachte dabei: »Ingrid ist sicher persönlich
von den besonderen Umständen des Falles unterrichtet worden.
Sie war ja von Anfang an meine Sachbearbeiterin. Aber warum
hat sie den Bericht nie geöffnet?«
Charlie beantwortete sich diese Frage selbst. Ingrid wusste sicher bereits
Bescheid. Solange sie das Dokument verschlossen ließ, konnte niemand
unbemerkt die Akten nach dem Geheimnis durchstöbern.
Charlie hatte die Perforation ganz geöffnet und schlug das Blatt auf.
Darauf stand in großen Buchstaben:
Umstände des Auffindens der Person:
Streng geheimer Polizeibericht über die Ereignisse:
Gegen 5:30 Uhr morgens fanden zwei Poolarbeiter einen Säugling
auf dem Gelände der Badeanstalt Kullarna in Lillby. Es war neblig und
die Angestellten Johann Pettersson und Sven Svensson hatten sich eigenen
Angaben zufolge gerade an einen Baum gelehnt, um eine Zigarette
zu rauchen. Plötzlich sei direkt vor ihnen, aus dem Nichts heraus,
eine rollende Kiste aufgetaucht. Sie sei, Sven Svenssons Worten
nach, ‚aus dem Nebel gekommen‘ und an ihnen ‚vorbeigerollt‘. Johann
Pettersson habe sich so erschreckt, dass ihm seine Zigarette aus dem
Mund gefallen sei. Svensson selbst sei sogar rückwärts in den Baum
gestolpert. Er habe sofort die nähere Umgebung abgesucht, aber
nichts und niemanden gehört oder gesehen. Auch Pettersson schwört,
niemanden gesehen oder gehört zu haben.
Die von der Polizei im Zuge der Amtshandlung sichergestellte einfache
Holzkiste war mit Holznägeln zusammengezimmert. Die vier
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Räder, die Achsen und die Radnaben waren ebenfalls aus Holz. In
dieser Kiste lag auf einem Tierfell ein kleiner Säugling, etwa fünf bis
sechs Monate alt, mit schwarzen Haaren. Das Mädchen war in einem
seideähnlichen Gewand gekleidet und trug außer diesem grün-blauen
Kleidchen lediglich eine Kette um den Hals.
Es handelt sich hierbei um ein einfaches Lederband mit einem
Anhänger aus hellem, fast weißem Stein, der einem Amulett ähnelt.
Allem Anschein nach ist der Anhänger ein Teil eines größeren Steines,
da auf der rechten Seite eine Bruchkante zu sehen ist. In den Stein sind
mit roter Farbe Verzierungen geritzt worden.
Nachdem die Zeugen nach einer Weile festgestellt hatten, dass sich
offensichtlich niemand einen schlechten Scherz mit ihnen erlaubte,
benachrichtigten sie umgehend die örtliche Polizeibehörde. Diese
nahm unverzüglich die Ermittlungen auf. Die Zeugen Svensson und
Pettersson wurden aufgrund ihrer verwirrenden Aussage mehrfach
vernommen. Leider ohne neue Erkenntnisse. Die rätselhaften Umstände
in diesem Fall konnten bisher nicht aufgeklärt werden. Bei den
Zeugen wurden bei den Vernehmungen Anzeichen eines nervösen
Zusammenbruchs festgestellt. Sie begaben sich auf Anraten der Polizeipsychologin
in psychiatrische Behandlung.
Charlie starrte aufgewühlt auf die Namen.
Johann Pettersson. Das war der Penner, der sie in der Gasse angegriffen
hatte!
Er und sein Kollege hatten sie also damals gefunden.
In psychiatrischer Behandlung? Ja, so hatte sich der Mann aufgeführt
– wie ein Irrer.
Charlie schüttelte ungläubig den Kopf und las weiter.
Die behandelnden Ärzte vermuten ein mögliches Trauma aufgrund
eines Gewaltverbrechens oder aber eine einfache Sinnestäuschung aufgrund
der Wetterverhältnisse. Eine Sinnestäuschung erscheint einerseits
als Erklärung der Ereignisse sehr plausibel, andererseits wirft sie
die Frage auf, wie zwei erwachsene Männer der gleichen Täuschung
erliegen konnten. Die Ermittler fanden keine Spuren, die auf einen
kriminellen Hintergrund hinweisen könnten.
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Die Kiste, der Anhänger sowie das Seidenhemd werden sicher verwahrt.
Der Anhänger wurde nach gründlicher Untersuchung dem
betreuenden Sozialamt zurückgegeben. Er besteht aus einem gewöhnlichen
Quarzgestein und ist dem Findelkind, das den Namen
Charlotta erhielt, bei dessen Volljährigkeit auszuhändigen. Es wurde
beschlossen, dass bis auf weiteres die Sachbearbeiterin Ingrid Olafsson
Charlottas Vormundschaft übernimmt.
Auch jetzt noch, viele Stunden später, war Charlie über diesen seltsamen
geheimen Polizeibericht sehr bestürzt. Der Schauer, der ihr gerade
über den Rücken lief, wurde nicht von der kühlen Nachtluft an
diesem frühen Morgen verursacht. Nein, die mysteriösen Umstände
ihres Auftauchens vor etwas mehr als 14 Jahren waren es, die Charlie
erschaudern ließen.
Wie ließ sich das alles erklären?
Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen und ging dabei
ihren verwirrten Gedanken nach. Seit ihrer Flucht aus dem Heim
waren etwa vier Stunden vergangen. Bei ihrem letzten Blick auf die
Armbanduhr war es 5:40 Uhr gewesen. Den holprigen Pfad durch das
Waldgebiet nahe dem Heim hatte sie seit längerem verlassen. Seitdem
schritt sie die Schotterwege durch Smâlands Wälder entlang. Diese
verbanden kleinere und größere Höfe sowie kleinere Siedlungen in
den Wäldern mit den Hauptverkehrswegen Südschwedens. So früh
an einem Samstagmorgen waren wenige Menschen unterwegs, aber
Charlie war darauf gefasst, bei jedem verdächtigen Geräusch einen
Satz in das Unterholz zu machen.
Die anfänglich leichte Wolkendecke hatte sich in der vergangenen
halben Stunde in eine dicke, graue Masse verwandelt. Es war ungemütlich
kalt geworden. Charlie bekam aber davon nichts mit. Sie
lauschte auf Geräusche und grübelte. Für viel mehr war in ihrem Gehirn
kein Platz.
Also, sagte sie zu sich selbst. Ich wurde an diesem Julitag gefunden,
genau wie mir erzählt wurde. Auch, dass ich fünf bis sechs Monate alt
war, stimmt überein. Und ich wurde tatsächlich im Freibad gefunden,
sogar der Baum stimmt. Ja, aber dann... dann stimmt gar nichts mehr!
Es war frühmorgens und neblig! Nicht mittags, warm und sonnig! Es war
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auch kein normaler Kinderwagen, in dem ich lag, sondern eine mysteriöse
Holzkiste, die als geheim eingestuft und sicher verwahrt wurde!
Genauso wie ihr angebliches Seidenhemd.
Was daran wohl so besonders war?
Charlie seufzte resignierend. Das würde sie wohl nie erfahren. Es
war ja geheim. Sie überlegte weiter:
Der Rest stimmt wieder überein. Es hat tatsächlich nie jemand nach
mir gefragt, und kein Mensch weiß, woher ich eigentlich komme. So wie
es aussieht, werde ich wohl nie erfahren, wer meine leiblichen Eltern
sind!
Charlies blasse Stirn legte sich in Falten. Das einzige was sie mit ihrer
mysteriösen Vergangenheit verband, war dieses einfache Halsband
aus Lederriemen mit dem zerbrochenen Stein. Sie griff automatisch
in ihre Jackentasche.
Sie ließ den Stein nachdenklich zwischen ihre dünnen Finger gleiten.
Er fühlte sich warm an, wohltuend und geradezu beschützend.
Beruhigt umschloss sie den Anhänger mit ihrer Faust und rief sich das
Aussehen des Amuletts vor Augen.
Nachdem sie gestern Nachmittag den als geheim eingestuften Polizeibericht
mindestens dreimal gelesen und versucht hatte, einen klaren
Gedanken zu fassen, war es ihr plötzlich wie ein Blitz durch den Kopf
geschossen: Der Umschlag! Auf der Parkbank sitzend, fummelte Charlie
zitternd und ungeschickt an ihrer Jackentasche herum, bis sie den weißen
Umschlag mit der Aufschrift ‚Charlotta Johansson‘ endlich in ihren
Händen hielt. Derselbe Umschlag, der in Ingrid Olafssons Büro nur kurze
Zeit zuvor laut zu Boden gefallen war und sie dadurch fast verraten
hätte. Sie öffnete das Kuvert und zog einen langen Lederriemen hervor.
Am dessen Ende hing ein Stein. Charlie musterte ihn neugierig. Er sah
genauso aus wie im Polizeibericht beschrieben. Es war ein sehr heller,
fast weißer Quarz, beinahe dreieckig. Eine Seite war abgerundet, die beiden
anderen hatten eine Bruchkante. In die Vorder- und Rückseite des
Steines waren Verzierungen geritzt worden. Die Ritzen waren mit roter
Farbe ausgefüllt. Es war ein dunkles, leicht schmutziges Rot. Es erinnerte
Charlie an getrocknetes Blut. An der Bruchkante befanden sich eben32
falls rote Farbreste, ganz schwach nur. Sie sahen fast aus wie Schmutz.
Instinktiv versuchte Charlie, den vermeintlichen Dreck mit dem Finger
abzureiben, was ihr aber nicht gelang. Mit einem Aufschrei sprang sie
kurz darauf von der Parkbank hoch und ließ den Stein auf den Rasen
fallen. Sie starrte den weißen Anhänger erschrocken an. Als nichts weiter
geschah, nahm sie ihn wieder vorsichtig in die Hand.
Tatsächlich! Der Stein war warm.
Als sie ihn aus dem Umschlag holte, war er kühl – wie es sich für einen
Stein nun mal gehörte, der an einem Tag im Mai in einem Umschlag in
der Jackentasche lag. In ihrer Hand wurde er langsam immer wärmer.
Auch normal.
Jedes Kind kannte diesen Effekt. Aber dann war er so warm geworden,
dass sie ihn erschrocken fallen ließ – aus Angst sich zu verbrennen. Nun
lag der flache Stein wieder auf ihrer Handfläche und sie betrachtete ihn
nachdenklich. Er war sehr warm, wurde aber nicht heiß. Sie hatte sich
nicht verbrannt, sie hatte sich nur sehr erschreckt.
Auf einem schmalen, schotterbelegten Waldweg schritt ein Mädchen
zügig voran. Nachdenklich hielt es den warmen Stein fest umschlossen.
Sehr seltsam, dachte es. Alles war wirklich sehr seltsam und äußerst
verwirrend.
Das Mädchen konnte ja nicht ahnen, dass dies nur der Anfang
war...