So, hier kommt sie, die versprochene neue Minikurzgeschichte.
Dieses Mal ist der Mini im Genre Mystik/Drama angeordnet und heißt Zaubermuschel.
Autorin: Marita Sydow Hamann
Lektorat: Anja Weggel
Zaubermuschel
Ihr Leben war zu Ende.
Sie stand auf der Klippe – auf wackeligen Beinen, kaum Halt findend,
kaum Halt suchend. Kraftlos, hoffnungslos. Eine Leere erfüllte ihre weltliche Hülle, ein schwarzes Loch sog in ihrem Inneren – stetig, unerbittlich. Tot. Sie würde sterben, qualvoll. Weshalb nicht dem kümmerlichen restlichen Leben ein Ende setzen?
Sie starrte in das tosende Meer zu ihren Füßen – ein Schritt nur, ein kleiner Ruck und ihre welkenden Muskeln würden sie nicht halten können …
Sie zerrten an ihr – all ihre Freunde, Verwandte und gut meinenden Menschen. Kopf hoch, das wird schon. Wie sie diesen inhaltsleeren Satz hasste. Kopf hoch. Weshalb? Wofür? Alles war nutzlos, ihr Leben nur noch eine tickende Uhr, das Ende so nah. Wozu sich noch anstrengen? Warum noch kämpfen? Sie würde dahinsiechen, jämmerlich und qualvoll zugrunde gehen und die mitleidsvollen Blicke ihrer Mitmenschen erleben, Menschen, die nun aufgegeben hatten, an ihr zu zerren. Denn wer konnte das Unabwendbare aufhalten?
Sie war doch noch so jung. Weshalb sie? Was hatte sie der Welt getan?
Das Meer tobte, lockte, leckte an ihren Füßen. Ein Schritt nur und alles wäre vorbei, für immer. So einfach, so absolut.
Komm, lockte das Meer. Komm zu mir …
Sie ließ los, schloss die Augen und ließ ihre nutzlosen Muskeln einen letzten Dienst verrichten. Ein kleiner Ruck in Richtung Meer – dort, wo die Brandung tobte. Sie fiel …
Das Meer schrie auf, brüllte ihr entgegen. Die Wucht der Welle fing sie auf und warf sie hart zu Boden. Ein Schmerz durchzuckte ihre dahinkümmernden Muskeln, denn noch war sie fähig zu fühlen. Sie keuchte auf, spuckte Salzwasser und hievte sich umständlich auf die Ellenbogen. Verfluchtes Meer, war sie nicht einmal gut genug für ein Grab in den Tiefen des Ozeans? Sie sah an sich herab, registrierte vage, dass ihr Bein blutete, registrierte deutlich, dass sie noch da war, dass das Leid kein Ende hatte.
Komm, wisperte der Wind. Komm zu mir …
Sie erstarrte und sah sich um. War es dieselbe Stimme? Ihr Blick fiel auf eine Muschel, die das Meer samt ihrer selbst zurückgelassen hatte. Perlmuttglänzend lag sie zwischen den schroffen Auswüchsen der Klippe. Glänzend und flüsternd. Komm zu mir …
Langsam streckte sie die Hand aus, tastend, vorsichtig.
Komm zu mir … Wie das Wispern des Windes, doch eindeutig eine Stimme. Sie zitterte – vor Kälte und vor … Da war etwas Neues … Ein seltsames Gefühl erfasste sie – ein Pirren, das sich von ihren Eingeweiden aus durch den ganzen Körper ausbreitete. Erregung! Ihre Finger umschlossen die Muschel und führten sie wie fremdgesteuert an ihr Ohr.
Es wisperte und tuschelte darin. Stimmen. Sie erzählten von Gerüchen und Farben, von samtweicher Haut und südländischen Klängen. Und sie trugen sie mit sich fort in ferne Länder, zu fremden Kulturen, die sie nur vom Hörensagen kannte, von denen sie geglaubt hätte, sie niemals selbst erleben zu dürfen. Sie horchte und roch, sie fühlte und sah, sie schmeckte und ließ sich leiten – ließ sich zeigen, was das Leben zu geben hatte. Sie saugte sie auf, die Bilder und Gefühle, die Menschen und ihre Geschichten, die Magie um uns herum und die Magie in uns allen. Sie füllten ihr Herz und jede Zelle in ihrem Körper, bis sie vor Energie zu zerbersten drohte.
Der Drang, diese wunderbaren Erlebnisse zu teilen, überwältigte sie, wurde fast unerträglich und ließ sie die Kraft finden, sich zu erheben. Sie wollte niederschreiben, was sie sah und fühlte, es hinaustragen, hinausschreien, in die Welt. Vielleicht konnte sie auch selbst auf Reisen gehen? Eigene Geschichten erleben und auch diese niederschreiben? Worauf wartete sie? Sie hatte doch nur ein Leben. Und ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Das Wispern lockte und zog an ihr, wurde intensiver, als pochte es auf sein Recht. Das Recht zu leben und zu lieben, zu tanzen und zu lachen. Und auf einmal verstand sie. Es war egal, wie kurz das Leben war, solange man es tatsächlich mit Leben füllte. Sie würde sterben, doch vorher würde sie leben!
Ende
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