Minileseprobe aus Lovisa - Der Riss im Universum aus der Reihe Das Vermächtnis der Lil`Lu (Teil 1)
»Ich muss dann, Paps.«
Die knollige Nase meines Vaters erschien über der Zeitung.
»Einen schönen Tag, mein Engel«, wünschte er mir und war auch schon wieder verschwunden.
Mit den Worten »Da ist jetzt frischer Kaffee« verließ ich die Küche, um von meiner Mutter in die Stadt gefahren zu werden. Sie war Altenpflegerin, und einmal die Woche ergab sich für mich der Luxus, eine halbe Stunde länger schlafen zu können. Dann fuhr sie mich zur Schule, und ich brauchte nicht frierend auf den Bus zu warten.
Als ich vor die Tür trat, schlug mir die Kälte entgegen. Ich zog meinen Schal über die Haare und zwängte mich samt Rucksack auf den Beifahrersitz, wo sich im Fußraum Schachteln stapelten. Der Motor lief bereits, meine Mutter drehte das Gebläse auf.
Obwohl ich nichts Seltsames gehört hatte, drehte ich mich abrupt um und starrte in den Wald. Ein Schauer überlief mich. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden, war so deutlich, dass es mir die Kehle zuschnürte. Die Bäume warfen dunkle Schatten, nichts rührte sich, und doch …
»Pass mit den Schachteln auf«, ermahnte mich meine Mutter und fuhr los. »Die sind für die Party heute Abend.«
Ich riss mich vom Wald los, warf ihr einen ironischen Was-du-nicht-sagst-Blick zu und schaute über die Schulter auf den Rücksitz. Weitere Schachteln und Kartons. Wenn meine Mutter nicht im Pflegeheim arbeitete, tourte sie als Tupperware-Queen durch Smålands Wälder.
Ich war mit Quick-Chef und Thermo-Duo aufgewachsen. Die Schränke unserer Küche quollen vor Plastikschüsseln, praktischen Boxen und Kochutensilien der Marke förmlich über. Meine Mutter war die beste Beraterin in ganz Kronoberg, ihr machte in Sachen Kochen und Backen mit Kombi plus und Ultra Pro so leicht keiner was vor. In einem Land, in dem der Winter lang und die Abende dunkel waren, waren solche Homepartys bei wechselnden Gastgebern eine willkommene Abwechslung und eine gern genutzte Gelegenheit, die oft kilometerweit entfernt wohnenden Nachbarn zu treffen.
Ich erinnerte mich gerne an die Kipper-Sessions mit meinem Paps und an gemütliche Events mit gutem Essen und Kindern zum Spielen. Ich hatte eine recht schöne Kindheit und Jugend. Meine Eltern Elsa und Jon liebten mich. Auf ihre eigene verquere Art und Weise. Ich hatte es ganz gut getroffen, wenn man bedachte, dass sie meine Pflegeeltern waren und meine richtige Mutter mal wieder in Växjö in der Geschlossenen lebte.
Nun gut, mal wieder war vielleicht übertrieben.
Es war lange her, dass Ulrika dort gewesen war. Genau genommen vier Jahre. Ich war gerade dreizehn geworden. Zu der Zeit verbrachte ich jeden zweiten Sonntag bei ihr. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war mein dreizehnter Geburtstag für sie etwas super Wichtiges – warum, das hatten wir nie erfahren. Sie steigerte sich so in ihre seltsamen Wahnvorstellungen hinein, die ihr sagten, dass da etwas ganz Furchtbares passieren würde, dass ich es richtig mit der Angst zu tun bekam. Meine Eltern – also Elsa und Jon – bewirkten beim Jugendamt, dass ich Ulrika erst einmal nicht weiter besuchen musste. Das war dann wohl der Auslöser für einen gravierenden Rückfall bei ihr. Zum Glück war mir das damals nicht bewusst, denn ich hätte mir vermutlich große Vorwürfe gemacht.
Als mir dann – oh Wunder! – doch nichts Gruseliges zustieß, erholte Ulrika sich sehr schnell. Einige Wochen später war alles beim Alten, und ich besuchte sie wieder jeden zweiten Samstag. Doch seit einem Jahr hatten wir seltener Kontakt. Ich war mit der Schule so eingespannt, dass es einfach nicht mehr so oft machbar war. Etwas, das sie natürlich verstand.
Vor einer Woche erhielt ich dann die Nachricht, dass sie sich selbst eingeliefert hatte. Ich verstand es nicht wirklich. Bei unserem letzten Treffen war sie so normal, wie Ulrika es eben sein konnte.
Wahrnehmungsstörungen. Wie die wohl aussahen? Was genau passierte da in Ulrikas Gehirn? Sie wollte nie darüber reden.
Das letzte Mal hatte ich sie vor vier Jahren danach gefragt, kurz bevor sie noch einmal richtig abstürzte. Sie war unglaublich nervös geworden. Ihre Augen zuckten umher, als hätten sie ein wirres Eigenleben. Sie begann, seltsames Zeug zu reden, von einer anderen Welt und von irgendeinem Wechsel. Von grausamen Menschen, die uns Böses wollten, die kommen würden, um uns zu holen. Wie schon erwähnt, bekam ich es mit meinen fast dreizehn Jahren mit der Angst zu tun. Ulrikas ganzes Gebaren versetzte mich in Panik. Sie griff nach mir und begann, mich zu schütteln. Das Weiße in ihren Augen hatte mich angestarrt. Sie hatte auf irgendetwas herumgekaut, das nicht da gewesen war, es hatte sich Schaum auf ihren Lippen gebildet …
Ich fröstelte bei der Erinnerung daran.
»Frierst du?«, fragte meine Mutter. Sie drehte die Heizung höher. »Es wird gleich warm.«
Ich nickte und schaute auf die Straße.
Wahrnehmungsstörungen …
Meine Gedanken wanderten zum Vortag zurück. ICA. Bunte Bilder. Der Raum begann, sich zu dehnen, zu verzerren … Beängstigende Muster …
Wahrnehmungsstörungen …
Ich zog scharf die Luft ein und rutschte mit unbehaglichem Gefühl im Bauch auf dem Sitz herum. Wurde ich jetzt verrückt? Irre? So wie Ulrika? Hatte ich ihre Krankheit geerbt?
Das unbehagliche Gefühl im Bauch begann, sich zu einem Knoten zu verhärten.
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Lovisa - Der Riss im Universum (Das Vermächtnis der Lil`Lu 1)
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